16.10.2019

Politik und Gewalt

Vor einigen Tagen habe ich mir ein Video über «linksextremistische» und «rechtsextremistische» Gewalttaten angeschaut. Im Video kamen «Linksextremisten», «Rechtsextremisten», der Verfassungsschutz und andere zu Wort. Bereits in der Einleitung wurde mir klar, dass es sich dabei wieder um eine einseitige Doku über «politisch motivierte Gewalt» handelt, denn im Fokus stand nur die Gewalt durch «Linke» und «Rechte». Die Gewalt, die von der Wirtschaft oder der Politik ausgeht, wurde natürlich ausgeklammert. Die Doku verlief also entlang den Linien der offiziellen Doktrin des «Extremismus», der natürlich nie definiert wird. Es wurde zurecht auf die Gewalttaten der Protestierenden beim G20-Treffen in Hamburg oder die der Neonazis gegen Flüchtlinge und Migranten verwiesen, diese verdammt und strafrechtlich verfolgt. Aber die Verbrechen der Politik, die Gewalt, die von der Wirtschaft ausgeht, wurde und wird verschwiegen – nicht nur in Dokumentationen und nicht nur in dieser Dokumentation.

Es geht immer um die «Ränder», die sich allein aufgrund der Tatsache bilden, dass das politische System der Moderne als eindimensionale geometrischen Achse dargestellt wird. So gibt es die «Linke», die «Mitte», die «Rechte», es gibt sogar die «Ultralinken» und die «Ultrarechten», die Roten, die Schwarzen, die Braunen, in Zukunft vielleicht auch die Dreieckigen, Viereckigen und die Runden mit doppeltem Boden. Das alles ist kein Witz, sondern wird sehr ernst genommen, von Wissenschaftler, Journalisten, von Politikern sowieso. Interessant ist an dieser Achse, dass es hier sehr wohl «extreme Linke» und «Ultrarechte» gibt, aber keine «extremistische» oder «radikale Mitte». Ebenso wenig gibt es «Kapitalextremisten». Von «Marktextremisten» hören wir auch nichts in solchen Dokumentationen, im Jahresbericht des sogenannten Verfassungsschutzes sowieso nicht. Ist das nicht interessant? Das hat vielleicht damit zu tun, dass die «Mitte» angeblich die «Norm» vertritt, hier der Status quo angesiedelt ist, das Bestehende und Akzeptierte. Wer hier sitzt oder dies andere glauben lässt, repräsentiert, so die Lehre, die Mehrheit, die «Mitte» eben, besitzt deshalb die politische Deutungshoheit und bestimmt nicht selten darüber, wer «extrem» oder was «Extremisten» und «Radikale» sind, ganz nach dem Motto: Wer «Extremist» ist, bestimme ich. Die Medien spielen eine große Rolle bei der Konstruierung dieser sozialen Wirklichkeit. Je weiter weg einer von der imaginären «Mitte» sitzt, desto «extremer» oder «radikaler» ist, oder besser gesagt, soll er sein. Zwar ist «extremistisch» und «radikal» nichtssagend, aber dafür negativ konnotiert und somit erfüllen diese Wörter ihren Sinn. Alles Mögliche kann «linksradikal» und «rechtsextrem» sein, insbesondere, weil sich diese schwammigen Begriffe endlos dehnen lassen. Wäre es da nicht vernünftiger, konkret zu werden und anstatt von «Rechtsextremisten», von Faschisten, Nazis, Nationalisten zu reden? Oder möchte man nicht konkret, klar und spezifisch sein? Manchmal erübrigt sich auch der «Nazi» und man kann gleich, etwa bei Attentaten, von Mördern, Kriminellen sprechen.

Wir sehen, die «Linse» schaut immer auf die «anderen», die «Ränder». Richtiger wäre, die Kamera umzudrehen und sich selbst zu betrachten, die eigenen Dogmen in den Fokus politischer Überlegungen zu stellen. Wie gültig ist die eigene Weltanschauung? Wo beginnt sie und wo hört sie auf? Welchen Sinn macht sie? Was ist ihr Zweck? Und überhaupt: Ist sie richtig oder falsch?
Solche Fragen stellen sich nicht. Das System liegt richtig und das System sind «wir». Seine Abschaffung kommt einem Sakrileg gleich, entsprechende Absichten sind «extremistisch», egal wohin die Reise gehen soll, d.h., welches andere System angestrebt wird. Denn Systemwechsel wird immer als Abschaffung der (inexistenten) Demokratie interpretiert. Hier offenbart sich ein dogmatisches Denken, das Politik und Wirtschaft nicht auseinander denken kann und anscheinend den Kapitalismus mit der sogenannten «Freiheitlich-demokratischen Grundordnung» (im Folgenden FDGO) gleichsetzt. Wer den Kapitalismus abschaffen will, der will die Demokratie abschaffen, d.h. wer den Kapitalismus bekämpft, ist Verfassungsfeind.

Dabei kann es sein, dass jemand den Kapitalismus, aber nicht den Parlamentarismus oder unsere Verfassung abschaffen will. Es gibt sehr wohl auch Menschen, die gegen weitere Migration sind, aber weder zur «Rechten Szene» gehören noch eine faschistische Einstellung haben. Es mag sein, dass die «Linksextremisten» gegen den Kapitalismus auf die Straße gehen, aber das macht nicht jeden, der den Kapitalismus ablehnt, zu ihren politischen Weggefährten. Es mag also sein, dass unterschiedliche Menschen oder Gruppen ein gleiches Ziel verfolgen (Abschaffung des Kapitalismus), aber die Motive, Methoden, Einstellungen sich deutlich unterscheiden, wodurch sie nicht in die gleiche diffuse Kategorie verordnet werden können. Es kann sehr wohl sein, dass «Rechtsradikale» gegen weitere Migration protestieren, aber das bedeutet nicht, dass jeder, der gegen weitere Migration ist, «rechtsradikal» ist oder mit diesen Leuten mitmarschiert. Die einen handeln vielleicht aus ideologischen Gründen, weil sie die «Fremden» hassen, die anderen, weil sie beispielsweise Angst vor weiterer Konkurrenz auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt haben. Ist es wirklich soweit gekommen, dass wir Journalisten, dem Inlandsgeheimdienst und Staatsschutz das Prinzip der Differenzierung beibringen müssen? Ich hoffe nicht.

Natürlich müssen Menschen, die Polizisten mit Steinen oder Brandsätzen attackieren, strafrechtlich verfolgt, vor Gericht gebracht werden – unabhängig davon, ob sie «Extremisten», «Braune» oder «Vierecke» sind. Zumal scheinen diese Leute Gewalt nur dann gut zu finden, wenn es die anderen, in diesem Falle die Polizisten trifft. Abgesehen davon bringen sie damit genau das in Verruf, was sie antreibt: den «Antikapitalismus». Wer unverhältnismäßig oder in Zeiten der Meinungsfreiheit mit Gewalt ein Zeichen setzen will, vermittelt den Eindruck, dass es ihm an überzeugenden Argumenten fehlt. Es gibt sicher andere Methoden, um sich zur Wehr zu setzen oder einen Kampf zu führen, der einem wichtig ist. Oder geht es gar nicht um eine politische Auseinandersetzung, sondern lediglich darum, die «Sau raus zu lassen»? Ich möchte niemandem zu nahe treten, aber viele Aktionsformen derjenigen, die von der Presse oder staatlichen Behörden in lächerlicher Weise als «Linksextremisten» bezeichnet werden, erscheinen lächerlich oder als gerade noch so als politisch zu bezeichnende Regression in die Kindheit. Sie schreien die Polizisten an, bewerfen sie mit allem möglichen Zeug und lassen sich abschließend mit dem Gefühl wegtragen, etwas gegen das «System» – das nie definiert wird – getan zu haben.

Die Polizisten sind hier nur Stellvertreter des Staates. Das legitimiert jeden Schaden, den sie im Einsatz gegen die Randalierer erleiden. Der Mensch hinter dem «Polizisten» wird gar nicht mehr wahrgenommen. Es scheint sie gar nicht zu interessieren, ob dieser Mensch verletzt wird oder ob daheim Frau und Kind auf ihn warten. Der Kampf für die «gute Seite» rechtfertigt alles und schützt das Gewissen vor Schuldgefühlen. Dass der «böse» Polizist aufgrund ihrer eigenen Untaten aktiv wird oder sich genötigt sieht, Gewalt anzuwenden, wird ebenfalls nicht reflektiert. Der Polizist steht auf der falschen Seite, beschützt die «Bösen» gegen den Protest der «Guten», wird zum Symbol für alles Schlechte, das «weg muss», daher kann er um die Ecke gebracht werden. Schließlich ist er nicht «mein» Bruder, Sohn, Vater, Freund und Kollege. Sie schreien nach einer Alternative zum Kapitalismus, während in Wahrheit die kapitalistische Menschenverachtung ihnen in Blut und Fleisch übergegangen ist. Sie wollen die Welt vor dem Kapitalismus retten und haben den Kapitalismus in ihren eigenen Köpfen noch gar nicht überwunden.

Die sogenannten «Rechtsextremisten», zumindest die gewaltbereiten unter ihnen, leiden an der gleichen Verengung. Ihre Ideologie erlaubt ihnen nicht, einen Blick hinter den Migranten, den Flüchtling zu werfen. Auch in diesem Fall wird der Mensch hinter dem «Fremden» schlicht ausradiert; dieser ist bloß ein Eindringling, ein Invasor, im besten Fall ein nützlicher Idiot, der für den «Großen Austausch» nach Deutschland geschickt wird. Wenn der Mensch nichts mehr ist, wenn der andere kein fühlendes Wesen ist, sondern bloß ein Messerstecher, Betrüger und Vergewaltiger, und zwar nicht weil er gestohlen oder vergewaltigt hat, sondern schlicht weil alle Migranten Kriminelle sind, dann kann jedes Verbrechen an ihm begangen, jede Scheußlichkeit durchgezogen werden, ohne dass einer dadurch selber zum Kriminellen wird, sondern zum rechtschaffenen Deutschen, der seine Heimat verteidigt. Die gleichen Menschen, die früher nicht gegen Waffenexporte, Ausbeutung des globalen Südens und Kriege auf die Straße gegangen sind, demonstrieren jetzt, da sich die Politik des eigenen Landes als Bumerang erwiesen hat, gegen «Überfremdung» und die Flüchtlinge – nicht gegen die Politiker und ihre Politik des Krieges und der Ausbeutung. Wer gegen diese Menschenverachtung aufsteht, der ist ein Verräter, ein «Gutmensch», eine «Bazille» und eigentlich nicht lebenswert. Auch hier ist ein hartes Eingreifen des Staates unerlässlich – und zwar nicht wegen der Ideologie oder politischen Ausrichtung der Straftäter, sondern wegen ihrer Taten. Doch damit lässt sich weder der Hass beheben noch das starke Unbehagen, das unsere Gesellschaft erfasst hat. Es muss die Quelle dieses Hass ermittelt und trocken gelegt werden. Solange das nicht geschieht, doktorn wir nur an den Symptomen herum. Die Ursache liegt nicht, zumindest nicht ausschließlich, bei rassistischen Gruppierungen; diese nutzen nur das Potential, das geschaffen wird. Nein, die Ursache liegt in der Politik, insbesondere in der Politik der letzten 20 Jahre, die unsere Gesellschaft in einer erschreckenden Weise barbarisiert, verhärtet und entmenschlicht hat, nicht allein mit verabschiedeten Gesetzen, sondern vor allem auch mit unterlassenen Taten, zum Beispiel der Schaffung eines Bildungssystems. Denn das heutige «Bildungssystem» ist nur ein «Ausbildungssystem», macht Kinder zu braven Untertanen, guten Fachkräften, aber erzieht sie nicht zu Bürgern, zur Tugend, bringt ihnen nichts über das Leben bei und lehrt Kindern nicht, wie sie für sich und andere Menschen einstehen können. Ein Bildungssystem, das zur Tugend erzieht, den Humanismus zum Programm macht, wäre ein Bildungssystem, das nicht nur ein Restaurationsprogramm für die Menschlichkeit wäre, sondern auch eine Gefahr für Politiker, die Parteien und ihre Machtbasis. Daher wird daraus wahrscheinlich nichts werden.

Insofern werden wir weiterhin mit Gewalt, Hass, Menschenverachtung und Barbarei leben müssen – denn die Politik macht weiter wie zuvor. Dass Hass und Menschenverachtung zu Gewalt, zu Verbrechen führen können, vielleicht führen müssen, versteht sich von selbst und bedarf eigentlich keiner weiteren Erklärung. Umso mehr erstaunt es, dass es so viele Artikel und Dokumentationen über die Gewalt «vom rechten Rand» oder das Gewaltpotential der «Linksextremisten» gibt, aber nur sehr wenige über die Gewalt, die von Politikern, Konzernen und den Medien ausgeht. Es ist schon verlogen, wenn Politiker und Parteien, die Waffenexporte in Krisenregionen genehmigen, ihre «uneingeschränkte Solidarität» mit Saudi-Arabien erklären, Kriege indirekt unterstützen, in Vergangenheit das Völkerrecht gebrochen haben, in den Aufsichtsräten zweifelhafter, um es nett zu formulieren, Unternehmen sitzen, sich dann über «linksextremistische» oder «rechtsextremistische» Gewalt beklagen, ihr «Entsetzen» ausdrücken, während ihr eigener Weg mit Menschenleichen gepflastert ist. Was für eine Heuchelei. Und die Medien nehmen das auf, strahlen es aus, sprechen mit ernster Miene darüber, ganz so, als würden hier entscheidende Worte fallen, große Politik stattfinden. Politikwissenschaftler fangen mit ihren Interpretationen an, verleihen dem Politikergeschwätz auch noch den Anschein von Glaubwürdigkeit und Gewicht. Ein Trauerspiel.

Die Politiker, die sich über die Straftaten der sogenannten «Extremisten» echauffieren, ein härteres Vorgehen gegen diese fordern, an den Rechtsstaat appellieren und in ihren Sonntagsreden mit den «Werten der Demokratie» im Gepäck gegen die «Verfassungsfeinde» zu Feld ziehen, begehen Verbrechen, gegen die die Untaten der von ihnen Beschuldigten wie Kinderstreiche scheinen. Kriege, Waffenexporte, Ausbeutung der eigenen Untertanen, Ausbeutung des globalen Südens durch abstruse Abkommen, eine staatlich organisierte Menschenverachtung (Hartz IV), Leiharbeit, Kinderarmut, Ungleichheit der Chancen für Kinder, Rentnerarmut, Verschacherung kommunalen Eigentums, katastrophale Zustände in vielen Pflegeheimen, Abzocke der Verbraucher, Bankenrettung auf Steuerzahlerrechnung usw. usf. Den Leidtragenden dieser Politik wird tagtäglich Gewalt angetan. Wenn Politiker andere Verbrecher ob ihrer Verbrechen anklagen, macht sich der Bock zum Gärtner. Die Menschenverachtung, die Verrohung in den Parteien und Parlamenten («Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen»), führt zur Verrohung auf den Straßen.

Selbstverständlich rechtfertigt die Gewalt der Politik nicht die Gewalt von Protestierenden. Jedoch wird der zweiten Gruppe viel Aufmerksamkeit gewidmet, während man für die Verbrechen und die Gewalt der Politik nur ein paar Randnotizen übrig hat. Die Gewalttaten einiger Protestierender im Hambacher Forst gegen Polizisten sind nicht zu rechtfertigen. Aber nicht alle haben Gewalt angewendet, Polizisten attackiert oder deren Leben gefährdet. Aber was ist mit RWE? Der Konzern vernichtet ganze Wohngebiete, Wälder und Lebensraum für eine aussterbende Technologie (Braunkohlebeschaffung) und kommt mit der Ausrede davon, dass es Verträge mit der Landesregierung gibt und die ganze Aktion legal sei. Wer ist hier der eigentliche Verbrecher? Wer der Gewalttäter? Die Protestler? Die Landesregierung? RWE? Und was für Spielchen treiben hier die Medien? Wieso werden Begriffe wie «Extremismus» nicht aufs Korn genommen, wieso widmet sich niemand der Gewalt der Politik und Wirtschaft, wieso sind Reportagen so einseitig und reproduzieren oft genug Stereotype und eine soziale Wirklichkeit, die als Metaebene unangetastet bleibt?

Es ist schon erstaunlich, wie auf der einen Seite von Meinungsfreiheit gesprochen und auf der anderen Seite von den Medien, dem Staat, den Schulen radikale Versuche unternommen werden, um die Gedankenwelt der Menschen, ihre Sicht und Wahrnehmung der Welt so zu gestalten, zu formen, dass sie dem Erhalt heutiger Strukturen dienen. Nur fällt das nicht negativ auf, ist sogar «normal», weil es eben der Staat ist, und der darf das ja. Schließlich handelt er im Sinne der Demokratie – wer könnte schon dagegen argumentieren? Es ist die «Mitte» der Gesellschaft, die «Werte unserer Demokratie», die so verteidigt werden. Es ist schon deprimierend mitanzuschauen, was vernunftbegabte Wesen sich und anderen Menschen antun, und wie sie ihre Taten oder Tätigkeiten im Nachhinein rationalisieren, um die Illusion aufrecht zu erhalten, auf der «richtigen Seite» zu stehen und «Gutes» zu tun. Wer also «unser» System infrage stellt, dieses überwinden möchte, muss Sinistres im Sinn haben, gar die Demokratie abschaffen wollen, die es komischer Weise nur in Kombination mit dem Kapitalismus geben kann. Es scheint als könnten manche Leute die Demokratie nicht außerhalb den engen Rahmens des Parlamentarismus und selbst dann auch nur in Verbindung mit dem Kapitalismus denken. Dass es unzählige andere Herrschaftsformen und Wirtschaftsweisen vor dem Parlamentarismus und Kapitalismus gab und nach diesen geben wird, erscheint den Aposteln des Status quo undenkbar.

Vielleicht dürfen wir von Journalisten und Politikwissenschaftlern nicht zu viel erwarten, sind auch sie emotional an Vorstellungen gebunden, die sie mit der Muttermilch aufgesogen haben. Heute gibt es Marktwirtschaft und Parlamentarismus, morgen wird es etwas Besseres geben. Die gesamte Menschheitsgeschichte erschöpft sich nicht in Marktwirtschaft und Parlamentarismus. Es wird auch nach diesen Phänomenen eine Welt, eine Zivilisation geben. Wer also ihren ideologischen Horizont sprengt, muss nicht unbedingt ein «Extremist» sein, was immer das auch sein soll. Es gibt Menschen, die nicht das Dogma des Parlamentarismus hinter sich her streifen. Es gibt Menschen, auch hier in der Bundesrepublik Deutschland, die weder mit dem Parlamentarismus etwas anfangen können noch mit den Ideologien der Moderne etwas zu tun haben (Konservatismus, Liberalismus, Nationalismus, Internationalismus) oder in vom Staat vorgegeben, abgesegneten Bahnen politisch denken und handeln. Es gibt Menschen, die das gesamte politische System, seine Vorstellungen, Terminologie und Stereotype ablehnen, und trotzdem keine Stalinisten oder Nazis sind. Die Welt ist weit vielfältiger als sich die Parlamentaristen vorstellen können; sie lässt sich nicht in «Linke», «Mitte», «Rechte» einteilen; dafür ist sie zu groß, komplex und vielfältig. Wenn die Welt in Schubladengröße schrumpfen muss, damit Menschen ihre Vorstellungen und Stereotype beibehalten können, ist der Parlamentarismus eines freien Menschen unwürdig. Darüber kann auch der Vorwurf des «Extremismus» nichts ändern. Es ist falsch und unredlich, Menschen außerhalb der Demokratie zu verordnen, wenn sie die heutige Wirtschaftsverfassung ablehnen, zumal die Vorstellung von der Demokratie sowieso fehlerhaft ist. Parlamentaristen können nicht bestimmen, wer Demokratiegegner ist, weil sie selber keine Demokraten sind.

Abgesehen von seiner Nichtigkeit, seiner Substanzlosigkeit, ist der Extremismus eine Fremdzuweisung, also pejorativer Natur, und sein Wert deshalb arg anzuzweifeln. Er ist weder «neutral» noch objektiv, sondern wertend und kann daher von der sogenannten «Mitte», der Norm, und der Kräfte, die diese Norm angeblich vertreten, missbraucht werden, um abweichende Meinungen zu denunzieren und verächtlich zu machen, um sich die Mühe zu ersparen, darauf einzugehen oder gar zu antworten. Es wird also im Vorfeld denunziert, um eine Diskussion unmöglich zu machen. Damit wird aber nicht nur der Dogmatismus der dominierenden Politik demonstriert. «Extremismus, «Radikalismus», «Linke», «Mitte», «Rechte» sind Fußfesseln eines Dogmatismus, der träge und denkfaul macht. Doch die Anhänger dieser «Zivilreligion» merken das oft gar nicht. Dogmatisch und ideologisch verbohrt sind nur die anderen. Sie projizieren ihren eigenen Dogmatismus auf andere und merken nicht, wie sie die Ketten ihres eigenen Dogmas hinter sich her schleifen. Das politische Denken in der Bundesrepublik Deutschland ist unfrei und starr.

Im Rahmen dieses Denkens, dieses «Systems», mag diese Terminologie für die Jünger der «FDGO» gültig, objektiv und wahr sein. Problematisch wird es, wenn sie auf Menschen angewendet wird, die sich außerhalb dieser Blase befinden. «Extremismus», «Radikalismus», «Linke», «Mitte», «Rechte» machen nur dann Sinn, wenn uns diese politische Sprache gemein ist, ist nur dann verständlich, wenn wir am «gleichen Tisch» sitzen. Sprechen wir diese Sprache nicht, teilen wir nicht diese Weltanschauung, verliert sie ihre Gültigkeit. Und ich denke, genau das wollen staatliche Träger verhindern. Und nicht nur sie. Es scheint, als seien sie sich der Relativität und der Grenzen der Weltanschauung der «Freiheitlich-demokratischen Grundordnung» gar nicht bewusst. Insofern wäre es bereits ein großer Fortschritt, würden besagte Jünger erkennen, dass ihr Dogma außerhalb ihrer Kirche keinen Anspruch auf Wirklichkeit erheben kann.

Die FDGO ist auf den Parlamentarismus zugeschnitten («Mehrparteienprinzip» … «durch Wahlen bestimmt das Volk, wer es regieren soll») und lässt für Demokratie wenig Raum. Es ist also nur natürlich, dass Demokraten sich hier nicht gänzlich wiederfinden können. Aber das ist schon in Ordnung so, damit können wir leben, schließlich ist der Parlamentarismus keine Diktatur, ist zumindest im Westen an die Menschenrechte gebunden und kann diese nicht mir nichts, dir nichts abschaffen. Es gibt mehr oder weniger unabhängige Gerichte, in Deutschland eine sinnvolle Verfassung (insbesondere die Artikel 1 bis 19 sind besonders hervorzuheben), der Willkür sind Schranken gesetzt. Soweit sogut. Ärgerlich ist nur, dass die Anhänger einer anderen politischen Herrschaftsordnung, die nur selten unter dem eigenen Namen auftritt, bestimmen möchten, wer Demokrat ist und wer nicht – und das nach Kriterien, die der Demokratie fremd sind.

Es wäre interessant zu recherchieren, aus welchen Gründen sich die Moderne ausgerechnet auf den Begriff «Demokratie» verschossen hat. Warum sie so sehr nach diesem Namen lechzt, indes seinen Inhalt ablehnt. Ist das bloße Ignoranz? Politische Schizophrenie? Kalkül? Es ist schon eigenartig. Auf der einen Seite darf die Demokratie als Namensgeber fungieren und auf der anderen Seite wird diese Travestie romantisiert, idealisiert oder gar als einzig wahre Religion hingestellt, obwohl die Demokratie nur eine Option von vielen ist und sich anderen nicht aufzwingt. Aber mit Demokratie wird ja nie die Demokratie, sondern der Parlamentarismus gemeint. Die Parteienherrschaft. Obwohl Demokratie eigentlich Volksherrschaft bedeutet. Irgendwie ist alles dehnbar, verwertbar, entleerbar geworden. Diese Leere dürfen wir jeden Tag in der Tagesschau, im Bundestag und in der Zeitung bestaunen. Die Moderne hat sich durch ihren Missbrauch alter Begriffe in so viele Widersprüche verwickelt, dass sie einer Spinne ähnelt, die sich in ihr eigenes Netz verstrickt hat. Wären die Folgen nicht so tragisch, wäre die Situation köstlich amüsant.

Ich habe längst aufgehört mich zu fragen, mit welchem Recht diese Menschen das Wort Demokratie in den Mund nehmen oder sich als Demokraten ausgeben. Es kann gut sein, dass sie das selber glauben. Mir persönlich ging es nie wie anderen, die die Demokratie einführen wollen oder für ihre Einführung streiten. Demokratie ist etwas für die Stolzen, für die Freien. Sie muss gewollt sein, nicht von einer kleinen Clique, sondern von der ganz großen Mehrheit. Sie wird nicht aufgezwungen, in Talkshows schmackhaft, gegen den Willen der Mehrheit durchgesetzt oder durch billige Tricks beliebt gemacht. Das alles ist ihr unwürdig. Nein, mir reicht es, wenn das Wort Demokratie nicht mehr missbraucht, die heutigen Staaten nicht als Demokratien, Politiker nicht als Demokraten und die Demokratie selbst nicht als etwas dargestellt wird, was sie nicht ist. Ich wünsche mir Ehrlichkeit, wissend, dass dieser Wunsch in Zeiten wie diesen einer Utopie gleich kommt. Der Parlamentarismus sollte unter seinem eigenen Namen auftreten und der Etikettenschwindel seitens seiner aktiven Verfechter eingestellt werden. Aber vielleicht ist ja schon dieser Wunsch «extremistisch». Die Demokratie ist es gemäß diesem Dogma allemal. Das Problem ist also der unehrliche Umgang mit dem Wort Demokratie.

Das Schlimme an der Identifikation der Demokratie mit dem Parlamentarismus ist die Einhegung der Demokratie durch emotional aufgeladene Konzepte, die Neutralisierung ihres Angebots und die Tatsache, dass die Demokratie für die Verbrechen des Parlamentarismus und jener, die sich Demokraten nennen wollen, verantwortlich gemacht wird. Dadurch fällt es Menschen schwer, in der Demokratie eine Alternative oder ein gerechtes Herrschaftssystem zu sehen, zumal sie zu wissen glauben, was Demokratie ist, eben weil sie glauben, dass sie in einer Demokratie leben. Es würde also keinen Sinn machen, sich für die Einführung einer Staatsidee stark zu machen, die es bereits gibt. Wir können nichts einführen, das bereits Realität ist. So schafft es der Parlamentarismus, sich mit fremden Federn zu schmücken und gleichzeitig der Demokratie die Flügel zu stützen. Das ist zwar perfide, aber, das muss ich zugeben, ein sehr kluger Schachzug. So wurde die Gefahr Demokratie ausgeschaltet. Wie verhinderst du, dass die Menschen für die Einführung der Demokratie kämpfen? Du bringst ihnen bei, dass sie bereits in einer Demokratie leben. Also müssen sie sich nicht für diese Idee einsetzen, schließlich ist sie bereits realisiert und seitens der Parteien mit Leben gefüllt. Eines Tages wird den Regierenden und ihren Vertretern in den Parlamenten dieser Schwindel vor die Füße fallen, und dann will ich sehen, wie sie sich aus der Nummer wieder raus winden. 

Stellt sich nur die Frage: Wie lange noch?