28.10.2012

Hellenismos heute: Religion und Weltanschauung der Hellenen

DER HELLENISMOS HEUTE


(Auszüge aus dem entstehenden Buch »Hellenismos heute«)
(Bildquelle: LABRYS)


2. Der »Hellenismos«
Der »Hellenismos« (oder »Hellenismus) ist der Name der hellenischen Tradition, d.h., der Religion und Weltanschauung der antiken Griechen. Der Begriff »Hellenismos« geht als Name für die griechische Religion auf Kaiser Flavius Claudius Iulianus zurück (M. Giebel: Kaiser Julian Apostata, S. 8). Im modernen Griechenland steht dieser Begriff für die gesamte griechische Kultur, als deren Fortsetzung und kulturelle Erben sich die griechischen Staatsbürger und der griechische Staat verstehen. Für uns, die wir nicht nur dem Namen, sondern auch dem Ethos und der Weltanschauung nach Hellenen sind (→ ethnische Hellenen), war und ist der »hellenismos der griechische way of life, d.h. die Beherrschung bzw. Nachahmung des Griechischen in Sprache, Lebensform und Religion« (H. Frankemölle: Frühjudentum und Urchristentum. S. 56, Stuttgart 2006). (Aus diesem Grund ist es sehr vielen Hellenen wichtig, das Altgriechische zu lernen. Obwohl man sagen muss, dass die Neugriechen altgriechisch sprechen, ohne es manchmal zu wissen. Auch wenn sich die Sprache veränderte, blieben viele Worte in ihrer Bedeutung gleich.) Demnach umfasste der Hellenismos lange Zeit vor Kaiser Julian auch die hellenische Religion.

Die Religion der Griechen ist in den folgenden Ländern bekannt als:
Griechenland:
1) ethnische hellenische religion
2) altgriechische Religion (also die vor-hellenistische Religion)
3) hellenische Religion

In den deutschsprachigen Ländern:
1) hellenische Religion
2) griechische Religion
3) Hellenismos

Die latinisierte Form des Hellenismos ist der »Hellenismus«, der aber im Deutschen für eine bestimmte Epoche steht (330 bis 30 v.u.Z.). Die latinisierte Form besteht nur in der deutschen Sprache. In Griechenland gibt es nur den »Hellenismos«, in der englischen Sprache heißt die griechische Kultur »Hellenism«, während die Religion sich erst vor kurzem als »Hellenismos« etabliert hat. In Ihrem Buch »Kaiser Julian Apostata: Die Wiederkehr der alten Götter« verzichtet Marion Giebel auf die Verwendung des -ismos, und greift stattdessen auf seine latinisierte Form zurück. 

Der »Hellenismus« ist in den Lexikons folgendermaßen definiert:
»Hellenismus« (Duden Online, letzter Stand: 21.03.2012)
1) Griechentum
2) [geprägt von dem deutschen Historiker J.G. Droysen (1808–1884)] nachklassische Kulturepoche von Alexander dem Großen bis zur römischen Kaiserzeit, die durch die wechselseitige Durchdringung griechischer und orientalischer Kulturelemente gekennzeichnet ist.

(Oxford Dictionaries Online, letzter Stand: 21.03.»2012«)
1) the national character or culture of Greece, especially ancient Greece:
2) the study or imitation of ancient Greek culture:
3) from Greek Hellēnismos, from Hellēnizein »speak Greek, make Greek«, from Hellēn »a Greek«


3. Art von Religion
Der Hellenismos ist eine kosmotheistischeanimistischepolytheistische und ethnische (kulturspezifische) Religion und Weltanschauung. Als indigene Religion ist er ein integraler und organischer Bestandteil seiner Kultur (Hellenentum), und außerhalb dieser Kultur und ihren Zusammenhängen nicht denkbar. Der Hellenismos ist definitiv keine »Naturreligion«.

»Mit dem Begriff ›eingeborene hellenische Religion‹ wird die Summe der Ansichten der ethnischen Hellenen (nicht-Christen) der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft über den Kosmos, die Götter, die Natur, die Tiere und Menschen gemeint. Die hellenische Religion ist eine polytheistische, indigene, organische und allen voran eine natürliche Religion. Sie wurde nicht von einem oder mehreren Menschen, ›Propheten‹ oder ›Gottesmenschen‹ geschaffen, und ist eine anfangs- und endlose geistige ›Koevolution‹ des biologischen, sozialen, politischen und kulturellen Wesens, das unter dem Begriff der griechischen Ethnie bekannt ist.«
(Vlassis G. Rassias: Unterschiede zwischen der griechischen und christlichen Religion.)

Der Hellenismos ist demnach »natürlich« und »organisch«. (»Die Formen der griechischen Religion sind aus ihrem Wesen organisch hervorgewachsen«, Nils., S. 25.) Der Hellenismos ist keine Orthodoxie, also nicht darauf bedacht, den »richtigen Glauben« zu bewahren. Im Hellenismos bedeutet »Glaube« nichts weiter als »Ritus«, der korrekt ausgeführt werden muss, entsprechend des »Arkhaíos Nómos«, der überlieferten Sitte. Demnach ist der Hellenismos eine orthopraxische Religion, darauf ausgerichtet, korrekt zu praktizieren. Es versteht sich von selbst, dass Überzeugungen was die Gottheit oder das Universum betreffen, nur dann richtig sind, wenn sie der griechischen Kultur entstammen, in ihr tendenziell angelegt sind oder in ihr existierten. (Das gilt selbstverständlich nicht für den Bereich der Kosmologie und des Weltbildes.)

Zu dem ist er eine Familien- und Gemeinschaftsreligion, die die Gemeinschaft an erster Stelle setzt, nicht das Individuum; der Individualismus ist dem Kollektiv untergeordnet. Die Orthopraxie, die Restauration und Erhaltung der hellenischen Tradition und Religion, und die Loyalität gegenüber dem Hellenentum und seinen Göttern haben alle hellenischen Polytheisten gemein.

Auch wenn er eine ethnische Religion ist, tritt der Hellenismos für die Position ein, Religionsgemeinschaften vom Staat strikt getrennt zu halten, und dass Religion nicht als »staatlicher Apparat« im Staat agieren darf – dieses Verhältnis von Staat und Religion soll gesetzlich geregelt sein. Abgesehen vom religiösen Aspekt, ist der Hellenismos nicht nur eine Tradition, oder wie wir es heute nennen, eine »Religion«, sondern eine Lebensweise, eine Weltanschauung, ein Wertesystem und eine bewusste Alternative zum Morgen- und Abendland. Der Götterkult ist nur ein Aspekt des Ganzen; er ist im Ethos inbegriffen.


6. Die Götter
 Die Hauptgötter der ethnischen Hellenen sind folgende: 

1. Zeus
2. Poseidon
3. Hera
4. Demeter
5. Apollon
6. Artemis
7. Athene
8. Ares
9. Aphrodite
10. Hermes
11. Hephaistos
12. Hestia

Weitere Gottheiten sind:
- Gäa
- Rhea
- Hypnos
- Pan
- Hades (Totengott und Herrscher der Unterwelt, die ebenfalls Hades genannt wird.)
- Plutos
- Nyx
- Dionysos
- Hades
- Hekate
- Hypnos
- Persephone
- Thetis
- Eros
- Asklepios
- Hygia
- Nike
- Die Musen
- Die Horen
- Die Chariten
- Die Dioskuren
- Die Moiren
- Dike
- Iris
- Eirene/Irini
- Epione

Hinzu kommen noch andere Wesenheiten: Die wohltätigen Daimonen (»Naturgeister« und »Schutzgeister« bekannt als Nymphen, Dryaden usw.) und der persönliche Daimon (Schutzgeist) jedes Menschen, die Toten und die Heroen, die Schutz geben, »und Hilfe in Not und Krankheit [...]« (Inge von Wedemeyer: Die Goldenen Verse des Pythagoras, S. 25). Die Daimonen sind »eine Klasse zwischen den Göttern und Heroen.« (Inge von Wedemeyer: Die Goldenen Verse des Pythagoras, S. 26).Das Wort »Daimon« bedeutet »Wissender« und »Gottheit« (Henry George Liddell, Robert Scott: A Greek-English Lexicon, S. 366), und ist im Hellenismos positiv besetzt. Ein Gebet kann aber auch an Kaiser Julian, an Philosophen Sokrates oder Hypatia gerichtet werden, um von ihnen Führung zu erhalten.
Die Götter der Griechen (griech.: Theoi) sind, wie schon Sallustios, Zaidman und Otto festhielten, körperlose und unpersönliche »kosmische Mächte«, Weltwirklichkeiten (Sallustios: Über die Götter und den Kosmos, II.). Die Götter sind »Ónta« (Wesen). Der Begriff »On« (plur. Onta) ist die Präsensform des Verbs »eimí«, das so viel heißt wie »(da) sein« oder »existieren« (Vlassis Rassias: Über die Natur der ethnischen Götter). Das Wort »Theos« (Gott), anfangs nichts weiter als ein Adjektiv, so Rassias, ist Gilbert Francois zufolge ein kollektiver Singular und wird von Mono- und Polytheisten gleichermaßen verwendet, beide meinen aber damit etwas grundsätzlich anderes. , und »ohne den Hauch eines Übels«; sie sind »leuchtende Ideale«

Die Götter sind gut, körperlos, »frei von Leid und Veränderung« (Sallustios, I.), und »ohne den Hauch eines Übels«; sie sind »leuchtende Ideale« (Walter Friedrich Otto: Theophania, S. 84).

Sie werden verehrt, weil sie Verehrung verdienen. Es sind allein die Sterblichen, die vom Gebet und den Opfergaben profitieren, denn dadurch gewinnen sie den Kontakt zu ihnen. Die Götter selbst brauchen nichts und haben keine Bedürfnisse (Sallustios, XV.).
[...]

Die griechischen Götter sind regulierende Wesenheiten, die im Universum existieren, innerhalb von Zeit und Raum, ohne davon beeinflusst zu werden. Sie sind wissend und unsterblich. »›Götter‹ heißen vollkommene und ordnende Wesenheiten, die unsterblich und wissend sind.« (Vlassis G. Rassias: Über die Natur der ethnischen Götter).
Die Gottesdefinition des Hellenismos findet sich als erstes bei Herodot (Herod.2,52,1):

»Götter aber (d.i. Ordner) nannten sie dieselben danach, dass sie alle Dinge in Ordnung gebracht und alles gehörig verteilt [haben].«

Die Gottheiten sind keine Aspekte des menschlichen Selbst, weder Archetypen (Otto: Theophania, S. 21), Symbole psychischer Vorgänge oder »Engel« eines vermeintlich »einzigen Gottes«. Sie sind »keine Personen« und keine Personifikationen von Naturerscheinungen (Rassias; Otto: Theophania, S. 76). [...] Sie sind von der »ersten Ursache« nicht getrennt, »wie die Ideen nicht vom Nous getrennt sind« (Sallustios, II.).

[...]

Zu guter Letzt muss noch erwähnt werden, dass jede nicht-hellenisch Interpretation und unwissenschaftliche Meinung bezüglich der Religion der Griechen, ihrer Götter, Mysterien(kulte) und Mythen im Hellenismos keine Gültigkeit besitzt. Sie sind für die ethnischen Hellenen bedeutungslos.


8. Riten
Die Riten und Zeremonien des heutigen Hellenismus sind durch das akribische Studium der antiken Quellen hervorgegangen, ohne die es den Hellenismus heute nicht geben würde. Sie lehnen stark an Attika an und stützen sich vor allem auf die Werke der Dichter und Tragödienschreiber. Ihre Struktur und ihr Ablauf ist konkret, und an die archaische und klassische Zeit orientiert. [...] Zeremonien sind dazu gedacht, um mit den Göttern in Beziehung zu treten und darüber hinaus erfüllen sie soziale und psychologische Aufgaben. 
Die Riten sind der Kern des Hellenismos, der als orthopraxische Religion ohne sie nicht sein kann. (Deshalb wurden in der Spätantike erst die Riten verboten, und erst später die für die Achtung der Götter notwendige Gewissensfreiheit.) Das religiöse Ritual ist eine Nachbildung der kosmischen Ordnung. Ob beim Ritual oder beim Gebet, den Göttern wird immer geopfert. Das Gebet ist im Hellenismos nichts weiter als eine an die Unsterblichen gerichtete Bitte (griech.: efchí). Traditionelle Opferungen sind Weihrauch (Olibanum), Wein, Milch, Honig, Olivenöl oder ein kleiner Teil vom eigenen Mittagsmahl. Tiere werden nicht geopfert. Schon in der Antike gelangten viele zu der Einsicht, dass die Götter »bescheidenen Gaben und unblutigen Opfern den Vorzug geben« (Theophrast; Porphyrios; P. Veyne: Die griechisch-römische Religion, S. 160).

Gott braucht nichts. Er ist weder auf die Verehrung noch auf die Opfergaben der Menschen angewiesen. Es ist der Sterbliche, der von der Verehrung der Götter profitiert, weil er den Kontakt zu ihnen gewinnt und in ihrer Nähe zu einem besseren Menschen wird (»Wir werden zu besseren Menschen, wenn wir uns den Göttern nähern« Pythagoras zitiert nach Plutarch).

[...]

9. Kosmothéasis (Weltanschauung)
Die grundlegende Lehre des Hellenismos ist sein Kosmotheismus, der sein eigentliches Charakteristikum ist (polytheistischer Kosmotheismus). Das Universum (griech.: Sympan) tritt selbst als organisches, ewiges und unendliches Ganzes in den Vordergrund. Das griechische Wort »Kosmos« bedeutet »Ordnung, Weltordnung, Schmuckstück«. Sein Gegenstück ist die »Unordnung«. Es gibt kein »Außerhalb«, ein Ort außerhalb des Universums, und weder Mensch, noch Gott kann sich rühmen ihn erschaffen zu haben (Heraklit, Fragment B 31), denn er ist unenstanden (Sallustios, VII.) bzw. aus sich selbst entstanden. Er ist ohne Anfang, und von Verfall »nicht betroffen« (Kelsos: Die wahre Lehre).

[...]

Die drei wichtigsten kosmischen Gesetz sind der hellenischen Tradition zufolge,
1) Anánke (Notwendigkeit), 2) Nómos (die physikalischen Gesetze), 3) Antipeponthos (»das, was man als Gegenstück zu etwas erleidet«, Nilsson, S. 44)
Das Universum ist für die Hellenen die ewige und ungeschaffene Wirklichkeit, die von keiner angeblich außer-kosmischen Macht »erschaffen« wurde, und die aus sich selbst heraus besteht. Die Götter sind esokosmische Wesenheiten, hauptsächlich daran interessiert, die Polymorphie des Kosmos und das Weltgesetz (Orthos Logos) zu erhalten.

[...]

12. Gebote
Die Gebote, nach denen die Hellenen leben, sind in ihrer Kultur fest verankert. Nicht nur das Wertesystem der griechischen Kultur, die »Gebote« Solons und die Lehrsätze der Philosophen dienen ihnen als Ethik-Kompass, als Hilfestellung in der Art und Weise sich zu verhalten und mit der Welt in Beziehung zu treten, sondern vor allem die delphischen Maximen. Ich stelle hier einige dieser Maximen vor:

»Folge dem Gott«
»Ehre die Götter«
»Ehre deine Eltern«
»Setze dich für das Gerechte ein«
»Verstehe was du hörst«
»Lerne dich selbst kennen«
»Ehre dein Heim«
»Beherrsche dich selbst«
»Hilf deinen Freunden«
»Beherrsche deine Wut«
»Konzentriere dich auf deine Bildung (Paideia)«
»Suche nach der Weisheit«
»Sei gerecht«
»Hüte dich vor deinen Feinden«
»Sei höflich«
»Halte dich vom Bösen fern«
»Höre allem zu«
»Übertreibe nie«
»Verschwende keine Zeit«
»Verachte die Hybris«
»Achte die Flehenden«
»Schenke, wenn du zu geben hast«
»Töte nicht«
»Suche die Nähe zu den Weisen«
»Beneide niemanden«
»Arbeite auf würdige Dinge hin«
»Beherrsche deine Zunge«
»Richte gerecht«
»Sprich, wenn du weißt«
»Sei gut zu dir selbst«
»Bereue wenn du Fehler begehst«
»Erhalte die Freundschaften«
»Sei dankbar«
»Hebe die Feindschaften auf«
»Akzeptiere das Alter«
»Werde reich mit gerechten Mitteln«
»Sei des Lernens nie überdrüssig«
»Lehre die Jüngeren«
»Achte dich selbst«
»Lache nicht über die Toten«
»Habe Mitempfinden mit dem Unglücklichen«
»Glaube nicht an das Glück«
»Sterbe kummerlos«
»Gnothi Seauton (Erkenne dich selbst)


13. Arete, der andere Weg
Wäre der Hellenismos ein Glaube, wäre es für seine Mitglieder viel leichter ihn in der heutigen Zeit zu praktizieren. Der »Götterkult« ist aber nur ein Aspekt des Ganzen. Der eigentliche Sinn des Hellenismos, und darin liegt die Alternative zum Abendland, ist sein Wertesystem, seine Weltanschauung, sein Wirklichkeitsverständnis. Einen anderen »Glauben« anzunehmen ist relativ leicht, aber eine andere Art von Mensch zu werden, verlangt viel mehr von einem ab. Und das ist der Kern der Sache, denn: was bringt es uns nicht-christlich im »Glauben« zu sein, aber dafür weiterhin christlich zu denken? Nichts, muss die Antwort lauten. 

Um ein anderer Mensch, ein Hellene zu werden, ist es notwendig, in Verbindung mit der hellenischen Seele zu treten und die Welt und das Sein mit hellenischen Augen zu sehen und zu erfahren. Und dies setzt die Verbannung des Christentums aus unserem Innern voraus, denn die Entchristianisierung beginnt im Kopf. Wir ersetzen nicht »Glaube« durch »Glaube«, sondern Mensch-Sein durch Mensch-Sein, Ethos durch Ethos, Identität durch Identität. Aber es gibt keinen Weg zum hellenischen Menschen außer durch das hellenische Wertesystem und das bedingt logischerweise die Lektüre antiker Schriften wie die der Dichter, Platoniker und Stoiker. Man könnte diesen Weg durchaus eine »Einweihung« nennen, denn: unternehmen wir diese Anstrengung, reinigen und lösen wir uns von eingepflanzten Sichtweisen und Dogmen, starten wir diesen schmerzhaften Prozess der Loslösung und Hinterfragung der offiziellen Geschichte und staatlichen Schulbildung, der Neudefinition der Welt und Wort, und treten wir »nackt« vor den Gottheiten treten, werden wir innerlich berührt und verändert. 


14. Miasma
Beim Miasma handelt es sich, grob gesagt, um eine Art von (ritueller) Verunreinigung. In seinem Lexikon »The English Lexicon of Standard Terminology for Hellenismos« beschreibt Vlassis G. Rassias das Miasma als eine Verschmutzung der Seele. Miasma sei »energisch, dynamisch und häufig das Resultat unnatürlichen Verhaltens«.

Miasmen kommen durch die »Verdorbenheit, Abscheulichkeit und Grausamkeit« schändlicher, ruchloser und bestialischer Taten zustande. Sie beflecken nicht nur den Täter, sondern auch seine Gemeinschaft. Wer ein Miasma begeht, darf nicht in die Tempel eintreten (was die Verunreinigung aller Riten bedeuten würde), noch an Zeremonien teilnehmen bis er rituell gereinigt wurde. Das Miasma entzieht dem menschlich Gutem die Kraft, verstärkt das vorhandene Übel [...].

Im antiken Griechenland war auch die Geburt eines Kindes, der Kontakt mit Leichen oder das Leiden an einer Krankheit miasmatisch, und das aus guten Gründen. Damals gab es keine sterilen Krankenhäuser, und das Leben der Menschen war von der körperlichen Hygiene und Sauberkeit abhängig.

Die Entstehung von Miasma sollte möglichst immer vermieden werden. Dieser Ansatz sollte jedoch nie zu einer neurotischen Zwangsstörung verkommen. Wie Paul Veyne richtig bemerkte, pflegten die antiken Griechen eine »aristophanische« Leichtigkeit, auch im Bereich der Religion, und mit eben dieser Leichtigkeit sollte auch das Thema »Miasma« behandelt werden.


[...]

18. Der Altar
Der Altar ist das Zentrum aller sakraler Akte. Die hellenische Kultgemeinschaft »Labrys« bezeichnet den Altar als »Kommunikations-Brücke« zwischen Menschen und Göttern. Der Altar ist fast immer nach Osten gerichtet. Bevor der Altar im Kult Verwendung finden kann, wird er den Göttern geweiht. Altäre werden einzelnen Göttern, Götterpaaren oder allen Göttern geweiht. Der Altar befindet sich im Zentrum der Verehrung. Er ist wichtiger, als die Tempel der Götter. Ist der Altar erst einmal geweiht, gehört er den Göttern. Er dient ihnen als »Portal«, als ein Verbindungstor zwischen dem Olymp und der Welt der Sterblichen. Die heutigen Hellenen verwenden authentisch-nachgebildete Altäre und Statuen für ihren Haus- und Gemeinschaftskult.


19. Die Priester
Der Hellenismos hat keine religiösen Führer und kein Oberhaupt, die Kultgemeinschaften sind alle autonom und lokal unterschiedlich, was sich als ethnische Religion eigentlich von allein versteht. Es existiert keine »Priesterkaste« oder professionelle Priesterschaft. Bei sich Zuhause ist jeder sein eigener Priester, führt religiöse Riten aus und kann Namensgebungen abhalten.


20. Die Götterstatuen
Durch die Statuen werden göttlichen Mächte zum Ausdruck gebracht (Porphyrios: Über die Götterbildnisse), Eigenschaften und »Aufgaben« der verschiedenen Götter festgehalten. Die Statuen und ihr Symbolwert erinnern an Qualitäten, die der Hellene in sich fördern muss, will er die Hybris überwinden und seine Seele veredeln (durch Philosophie). Der bis heute anhaltende Vorwurf der Idolatrie (Götzenanbetung) zeugt von großer Ignoranz und hat keinen Bezug zur Realität.

[...]

21. Der Olymp
Der Aufenthaltsort der Götter ist der Olymp. Ein Reich reinen Lichts (Otto: Die Wirklichkeit der Götter, S. 13), das außerhalb der menschlichen Welt existiert. Er ist nicht von dieser Welt, und wie die Götter selbst, ewig. Er »wird weder von Winden erschüttert, nicht von Regen befeuchtet, noch nähert sich ihm der Schnee« (Homer, Odyssee). Obwohl es sich beim Olymp nicht um einen irdischen Ort handelt, verwechseln ihn die meisten Menschen mit dem gleichnamigen thessalisch-makedonischen Berg, weil sie den Fehler begehen, die Mythologie mit der eigentlichen Religion zu verwechseln.
Vlassis G. Rassias erklärt:

»Unsere zwölf Götter werden auch ΟΛΥΜΠΙΟΙ (Olympier) genannt, aber nicht weil sie auf dem Berg Olymp verweilen, wie so viele glauben möchten; ferner gab es in der griechischen Welt, nicht einen, sondern achtzehn Berge, die diesen Namen trugen. [...] Das Wort ›Olymp‹ stammt vom Verb ΛΑΜΠΩ (lampein, strahlen) ab. Unsere zwölf Götter sind die ›Leuchtenden‹ und der echte Olymp ist kein geographischer, sondern ein spiritueller Ort, wo die Götter tatsächlich existieren.« (Hellenism: What we believe, what we stand for.)

24. Das Böse
Das Gute ist den Hellenen eine universelle Wirklichkeit, »während das Schlechte nur eine Narrheit unaufgeklärter oder schlimmsten Falles minderwertiger Geister ist [...].«
(Walter Friedrich Otto: Das Weltgefühl des klassischen Heidentums, in: Mythos und Welt. S. 24, Darmstadt, 1963, zitiert nach Friedrich Wilhelm Korff: Vorwort zum Wahren Wort des Celsus, in: Celsus, Th. Keim (Übers.): Gegen die Christen. S. 26-27, Matthes & Seitz Verlag, München 1984.)

Für den heutigen Hellenismos gilt:
1) Es gibt keinen »Teufel« oder »Widersacher Gottes«; keine Schlachten zwischen den »Legionen des Lichts und der Finsternis«. Ein solcher Dualismus kommt nicht vor. (Generell wird der Dualismus abgelehnt, aber dazu an anderer Stelle mehr.)

2) Das Böse entsteht durch die Abwesenheit des Guten (Sallustios, XII.).

3) »Das Böse kommt nicht von Gott. Es ist ein Teil der materiellen Welt und der menschlichen Gesellschaft« (Kelsos: Die wahre Lehre). Das Böse ist den Göttern fremd, und wie alles ihnen »nicht Zugehörige«, kann es sie nicht erreichen (W. F. Otto: Die Wirklichkeit der Götter, S. 36).

4) Es sollten keine voreiligen Schlüsse gezogen werden: Was einem vielleicht böse erscheint, ist es eventuell gar nicht; man kann sich in den wenigsten Fällen absolut sicher sein. Deshalb wäre es viel besonnener »das Böse« aus unserem Vokabular zu streichen, und statt seiner »das Schlechte« zu verwenden.

Der heutige westliche Mensch hat die schlechte Angewohnheit, alles auf sich zu beziehen und sich im Mittelpunkt des Universums vorzustellen. Dieses egozentrische Denken bewegt ihn dazu, etwas als »böse« abzustempeln, das eine Gefahr für sein Leben darstellt (ob eine Tsunami-Welle oder ein schwarzes Loch). Doch Ereignisse, Phänomene und Mächte können nicht als »böse« eingestuft werden, nur weil sie für evolvierte Trockennasenaffen schädlich sind. Das Schwarz-weiß-Denken hat sich als unprofitabel erwiesen, und daraus lässt sich schlussfolgern, dass differenziertes Denken und dialektisches Abwägen, die besten Wege sind, sich diesem schwierigen Thema zu nähern. Die Moralisierung der Wirklichkeit garantiert Enttäuschungen.

Die griechische Religion terrorisiert die Menschheit nicht mit »Teufeln« und »bösen Geistern«, im Gegenteil: »Die Menschen, die mit ›Teufeln‹ und obskuranten Sinnblidern Schrecken verbreiten, stehen im Dienste der Feinde des Menschen«, erklärte Maria Tzani zugespitzt in einer griechischen Talkshow. Anstatt den Menschen Angst zu machen, ist es viel sinnvoller, ihnen Vorschläge zu unterbreiten, wie sie lebensrichtig denken und handeln können. Und dies geschieht nicht nur mit Hilfe der Philosophie, sondern auch mit der Inanspruchnahme der Wissenschaft (Biologie, Neurowissenschaft, Tiefenpsychologie u.a.)


25. Das Konzept der Allmacht
Für die Hellenen ist »Allmacht« ein Aberglaube, sie ist schlicht und einfach nicht existent. Die griechischen Götter sind nicht allmächtig. Sie sind dem Prinzip der Ananke »unterworfen«, respektieren die Gesetze, die sie zum Wohl des Universums erlassen haben.

Die oft von Atheisten an Theisten gestellte Fang-Frage: »Kann Gott einen Stein schaffen, der so schwer ist, dass er ihn nicht aufheben kann?«, kann von einem hellenischen Polytheisten nur mit einem klaren Nein beantwortet werden. Er kann es nicht, denn er ist nicht allmächtig.


26. Hellenische Philosophie
Die hellenische Philosophie spielt im Hellenismos eine zentrale Rolle, beeinflusst aber minimal bis gar nicht den eigentlichen Kult. An erster Stelle steht der Platonismus und Neuplatonismus, gefolgt von der Stoa. Die vorsokratische Philosophie übt auch einen beträchtlichen Einfluss auf die ethnischen Hellenen aus.

Die Beschäftigung mit der Philosophie ist keine Pflicht, wird aber anempfohlen, um das antike Denken zu lernen, um zu lernen durch antike Augen zu sehen. Die Beschäftigung mit Philosophie und die Entscheidung für eine bestimmte philosophische Schule hängt von der Selbstbestimmung jedes Einzelnen ab. 

Im Hellenismos geht es vor allem um eine tugendhafte Lebensweise; dass sich jene, die sich für ihn entscheiden, sich vom »Ehrgefühl leiten« lassen, »[...] niemals Unwürdiges [...] tun, weder mit anderen, noch allein« (Inge von Wedemeyer: Die Goldenen Verse des Pythagoras, S. 18), dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach Perfektion streben und ihr bestmöglichstes geben, gute und tapfere Menschen zu sein. Was nützen Kenntnisse philosophischer Konzepte, wenn der Charakter elend und niederträchtig ist? Die griechische Philosophie ist praktisch und zeigt Wege auf, tugendhaft zu leben, ehrenvoll zu handeln, sorgenfrei zu sterben. Das heißt nicht, dass man allen Sätzen Platons oder Epiktets zustimmen oder folgen muss, sondern, dass man die Philosophie für sich erschließt, um sich adäquat gegenüber der Welt und den Ereignissen zu positionieren.

Glücklich- oder unglücklicherweise, wie man es nimmt, kommt kein einziger hellenischer Polytheist an der, zumindest (!) oberflächlichen Beschäftigung mit hellenischer Kulturgeschichte und Philosophie vorbei. Wie weit jeder einzelne seine Kenntnisse auf bestimmten Gebieten vertiefen möchte, liegt immer ganz bei ihm oder ihr selbst.
Der Platonismus ist vor allem deshalb beliebt, weil er ein komplettes und vollständiges theologisches und kosmologisches System anbietet, das in sich geschlossen ist. Außerdem waren die wichtigsten Vertreter und Verteidiger der griechischen Tradition (gegen die Angriffe des Christentums auf das Hellenentum) Platoniker/Neuplatoniker (Celsus, Porphyrios, Proklos, Simplikios, Plethon u.a.), was sicherlich auch einen gewissen Reiz ausübt.

Im Hellenismos ist Platz für alle Schulen der Philosophie: Ob die Geisteswelt Homers und Hesiods, die Orphik (eigentlich ein Mysterienkult), die Vorsokratiker, die Schule der Eleaten, die Atomisten, der Platonismus/Neuplatonismus, Kynismus, die Kyrenaiker, die Stoa und der Epikureismus – sie alle sind von der Antike nicht wegzudenken. Zwischen diesen System gibt es auch Überschneidungen, und es ist nicht unüblich, dass zum Beispiel ein Platoniker einzelne Ideen von der Stoa aufnimmt und umgekehrt. Der Hellenismos und die griechische Philosophie sind »offen« für alles geistig Verwandte.

Die griechische Philosophie schließt die Beschäftigung mit chinesischer Philosophie (Daoismus, Konfuzianismus) oder meinetwegen mit Tiefenpsychologie oder Quantenphysik nicht aus. Doch können diese durchaus gewürdigten und respektierten Philosophien und Wissenschaften im Götterkult selbstverständlich keine Rolle spielen, was aber nichts über ihre Rolle im Leben der einzelne
n Polytheisten und in ihrer Gedankenwelt aussagt.
Der Hellenismos ist ohne die griechische Philosophie nicht denkbar [...]

28. »Paganismus« und »Götzenkult«
Neben dem »Begriff« des »Heidentums« gibt es noch einen zweiten, ähnlichen »Begriff«, der für den gleichen Inhalt steht: der »Paganismus«. Dieses Wort hat sich aus dem »Dorf-/Landbewohner« (lat. pagi) heraus entwickelt. Als das Leben in den oströmischen Städten für viele Ethniker unerträglich wurde, flüchteten sie aufs Land, wo sie weiterhin ihre einheimische Tradition und Identität pflegen konnten. Diese Menschen wurden von den Christen später als »Paganisten« stigmatisiert, um der Nachrede Nachdruck zu verleihen, bei den Ethnikern handele es sich um »unzivilisierte Bauerntölpel«, die trotz Verfolgung, an der »falschen Götzenreligion« festhielten. Diese Behauptung ist, wie so viele andere unwahr, waren doch die griechischen und römischen Bildungseliten polytheistisch.

Leider wurde im Laufe der Zeit der »Ethniker« durch den »Paganisten« ersetzt. Alle Religionen, die entweder ausgelöscht wurden oder zu schwach waren, um Widerstand zu leisten, wurden in diesen »Kessel« geworfen, trotz der Tatsache, dass diese sich von einander unterschieden und eigenständig waren. 

Ihre Eigenheiten, Kennzeichen und Besonderheiten gingen im nichtssagenden Begriff des »Heidentums« unter, so als ob sie alle verschiedene Ausrichtungen ein und derselben Sache wären. Der »Paganismus« ist vor allem heute nichtssagend, weil er »nicht-monotheistisch« bzw »nicht-abrahamitisch«, bedeuten will, was im Grunde nichts über die betroffene Religion aussagt. Die ethnischen Religionen lassen sich nicht durch das definieren, was sie nicht sind, sondern durch die Kulturen, die sie hervorbrachten und ihnen ihren Charakter verliehen.

Im Falle der griechischen Religion ist glasklar erkennbar, dass sie weder eine »Naturreligion«, ihr Polytheismus nicht ihre eigentliche Besonderheit und sie nicht »pagan« ist, weil sie in den Poleis voll ausgeformt wurde und ihnen ihren Charakter verdankt; und weil sich Menschen wie Plutarchos, die Stoiker, Julian, Hypatia, Kelsos, Prophyrios, Proklos, Libanios etc. schlecht als »unzivilisierte Hinterwäldler« denken lassen. (Folglich kann der Hellenismos auch keine »neopagane« Religion sein, weil er nie »pagan« gewesen ist.)

[...]

Die eingeborenen Völker Europas haben sich nie als »Götzenanbeter« oder »Paganisten« verstanden – weil sie keine waren. Beide Schimpfwörter wurden der antiken, vom Christentum besiegten Welt aufgezwungen. Seine Verwendung durch heutige Historiker und Wissenschaftler ist (genau besehen) ein Skandal.

30. Organisationen
Die Stärke des Hellenismos liegt darin, dass er organisiert ist. Somit konnten die griechischen Ethniker für ihre Tradition und Lebensweise sehr vieles erreichen. Und genau dieser Zusammenhalt half ihnen, die theokratischen und nationalistischen Angriffe auf sie zu überstehen und stärker zu werden. Es gibt keine »Splittergruppen« innerhalb des Hellenismos, denn dieser bildet eine vielseitige Einheit; die hellenische Tradition ist vielfältig und bietet wie schon in der Antike »Platz« für alle an, für Stoiker, Platoniker und Epikureer gleichermaßen. Keine »Richtung« dominiert die andere.

Der Hellenismos ist in Kultgemeinschaften und Dachorganisationen organisiert, strebt in Griechenland zwar die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts an, wurde aber bisher in keinem Staat der Welt als Religion anerkannt. Wie das zuständige neugriechische Ministerium dem Obersten Rat mitteilte, gibt es in Griechenland kein Gesetz, dass die Anerkennung von Religionen regelt. Zwar ist die griechische Religion als »bekannte Religion« gerichtlich anerkannt, nämlich als Religion der antiken Griechen, muss aber durch ihren größten Träger weiterhin »Gewerbesteuer« zahlen, was ihre Existenz gefährdet. 

[...]

Die einflussreichste und mitgliederstärkste hellenische Organisation weltweit ist der Oberste Rat der ethnischen Hellenen (YSEE). Der YSEE vertritt das Hellenentum und den Hellenismos im In- und Ausland, organisiert philosophische, historische und religionsgeschichtliche Seminare, Riten, Namensgebungen, Hochzeiten usw. Seine Artikel und Texte repräsentieren die Welt der neuzeitlichen ethnischen Hellenen. Der YSEE hat mehr als 200 Protestbriefe an Parteien, Behörden, Medien, Menschenrechtsorganisationen und an Brüssel ausgesandt.