03.10.2019

Die Einheit, die keine ist

Heute ist der Tag der Deutschen Einheit. Doch anstatt zu feiern, sollten sich die Politiker Gedanken darüber machen, wie die Deutsche Einheit nach drei Jahrzehnten endlich verwirklicht werden kann. Solange es für die gleiche Arbeit nicht den gleichen Lohn, die gleiche Rente und gleiche  Lebensverhältnisse in Ost und West gibt, gibt es im Grunde auch keine echte Deutsche Einheit. Ich bin kein Ostdeutscher und habe nicht im Osten der Republik gelebt. Doch wir alle kennen die Zahlen. Wäre ich Ostdeutscher und würde mir all die strahlenden Gesichter zur Feier der Deutschen Einheit anschauen müssen, würde ich mich verhöhnt fühlen. Es ist nicht nur die Ungleichheit, sondern auch all die abgehängten Regionen, die einen Schatten auf die Deutsche Einheit werfen.

Seit Jahren wird darüber diskutiert und passiert ist wenig bis gar nichts. Nicht nur das: die Ostdeutschen müssen sich von gutverdienenden Politikwissenschaftlern und Politikern belehren lassen, dass es ihnen so gut gehe wie nie zuvor und die Wut in vielen Teilen Ostdeutschlands nicht verständlich sei. Ich frage mich immer, haben diese Leute je mit einem Leiharbeiter im Osten gesprochen, mit Armutsrentnern und mit all den vielen Menschen, deren Leistung in der DDR nicht anerkannt, deren Biografien abgewertet wurden? Mit all den Menschen, die aufgrund der Treuhand arbeitslos wurden und nie wieder Arbeit finden konnten? Mit all den Menschen im Osten (und im Westen!), denen trotz harter Arbeit Armutsrenten drohen?

Ja, die Ostdeutschen haben Freiheit gewonnen. Sie haben aber auch Sicherheit verloren, mussten mit anschauen, wie ganze Regionen den Bach runter gingen, Freunde und Verwandte in den Westen zogen, Zugstrecken lahmgelegt und die Ostdeutschen in eine Ecke gerückt wurden, in die sie nicht hin gehören. Anstatt die Menschen zu verhöhnen, zu belehren und sich ignorant über die politikgemachten Missstände im Osten hinwegzusetzen, sollten die Politiker endlich das Geld in die Hand nehmen, in den Osten und in den abgehängten Regionen im Westen in Infrastruktur, Bildung etc. investieren, den Sozialstaat wiederherstellen, damit die Menschen nicht in ständiger Angst leben, den Mindestlohn anheben, die Renten angleichen und erhöhen und das benötigte Geld dafür dort nehmen, wo es sich seit Jahren stapelt, nämlich bei denen, die von der Politik seit 1998 gemästet wurden und weiterhin gemästet werden.

Solange nichts in diese Richtung passiert, ist jede Feier der Deutschen Einheit eine heuchlerische Veranstaltung. Die Menschen haben gute Gründe, um sich hintergangen und verhöhnt zu fühlen. Das Problem ist nur, dass die Politikdarsteller im Land kein Verantwortungsbewusstsein haben oder vielleicht auch nicht den Mut, das zu tun, was richtig ist. Denn sie müssten sich dann mit denen anlegen, die das große Geld besitzen. Und das geht nicht, wenn man gekauft ist und Parteispenden von Unternehmen an die Parteien weiterhin erlaubt sind. So wird es nichts mit der Wiederherstellung des Sozialstaates, der Investition in Infrastruktur, Bildung und Digitalisierung, mit guten Löhnen, guten Renten und guter Pflege für alle Menschen in Ost und West. Deshalb dürfen wir uns immer wieder anhören, weshalb dieses oder jenes angeblich nicht machbar ist; doch Politik kann immer das finanzieren, was sie finanzieren will. Für alles andere findet sie Ausreden; dann heißt es «wir können nicht», um nicht sagen zu müssen: «wir wollen nicht.»

Es braucht also Druck auf die Politik und endlich anständige Ökonomen, Politikwissenschaftler und Journalisten, die mit ihren Aussagen nicht die Würde der Ostdeutschen verletzen und diese Menschen bloßstellen, sondern im ehrlichen Gespräch mit dem Osten eine Perspektive für Verständnis, Aufbau und Würdigung eröffnen. Die Parteien werden das nicht von allein machen, deshalb muss die Straße ihnen solidarisch entgegenkommen und sie zwingen, Politik für die Mehrheit zu machen, die Spaltung zwischen Land und Stadt, Ost und West zu überwinden und endlich gleiche Chancen und Startbedingungen für alle Kinder zu garantieren, ob sie nun in Bayern, in Frankfurt oder in Sachsen geboren sind. Wer die Deutsche Einheit will, der muss sie auch verwirklichen.