22.08.2019

Re-Indigenisierung

Die Re-Indigenisierung ist ein Begriff aus der Ethnologie und bezeichnet den Prozess der Wiederherstellung der indigenen Kultur oder kultureller Elemente einer Ethnie und der damit einhergehenden Revitalisierung von Ethnizität (Ethnismus) unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände und Bedürfnisse der jeweiligen Ethnie. Sie kann als eine angemessene Reaktion auf Kolonialismus, Christianisierung, Ethnozid oder auf eine aufgezwungene Angleichung an die dominierende Kultur der heutigen Welt verstanden werden. Die Ethnizität bildet ein vielschichtiges Komplex aus Sprache, Symbolik, Mythologie, Religion, Weltanschauung, Feste, Kosmologie, Ethnomedizin, Kunst, Geschichte, Brauchtum und sozialen Strukturen. Im Folge einer Re-Indigenisierung grenzt sich eine Ethnie vom Abendland («Moderne») oder der Kultur der Eroberer ab, hebt das wiederentdeckte Eigene hervor und als Alternative der dominanten Kultur gegenüber. Die Re-Indigenisierung verfolgt einen spezifischen Zweck, will einen dauerhaften soziokulturellen Wandel herbeiführen. Ein solcher Prozess wird beispielsweise durch eine nativistische Bewegung organisiert und kann nur gelingen, wenn er von der großen Mehrheit der Ethnie oder des Stammes befürwortet und getragen wird, was aufgrund von wirtschaftlichen Zwängen nicht immer selbstverständlich ist. Die Re-Indigenisierung kann den vollständigen Bruch mit den kolonialistischen Strukturen oder Normen bedeuten und den Kampf gegen Armut, Kriminalität oder um Landrechte beinhalten. Die Hauptziele bestehen in der Rückbesinnung auf die eigene Kulturtradition, der Orientierung am eigenen Wertesystem und letztlich in der Autonomie der eigenen Ethnie. Dies ist nur durch eine Abwendung von der dominierenden Kolonialmacht oder Kultur zu bewerkstelligen.

Die Verdrängung fremder kultureller Elemente schafft neuen Raum für die Regeneration der kollektiven ethnischen Imagination, sprich: die Identitätsstiftung. Ein solcher Freiraum erweist sich insbesondere dann als äußerst hilfreich, wenn das von der dominierenden Kultur negativ gezeichnete Bild von der eigenen Kultur im Zuge der Assimilierung internalisiert wurde und die Zugehörigkeit zum jeweiligen Stamm Scham erzeugt. Hier kann die Identifizierung mit den traditionellen Werten oder den Helden aus der Mythologie heilend auf das ethnische Bewusstsein wirken und dabei helfen, sich nicht mehr über beispielsweise westliche Kategorien und Denkarten zu definieren. Durch eine positive Hervorhebung der eignen Andersheit und Eigenart kann das Kollektiv seine Mitglieder dabei unterstützen. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Erlernen oder die Wiederaneignung der eigenen Sprache, der Mythen, Sitten, der Musik, Medizin, Mode und Literatur. Gleiches gilt für die Weltanschauung und Religion, von der Außenstehende oder Mitglieder der dominierenden Kultur auch ausgeschlossen werden können, um beispielsweise die Riten vor Imitation, Verfälschung und Ausbeutung zu schützen. Die Kriegserklärung (declaration of war) der Lakota gegen die Ausbeuter der Lakota-Spiritualität vom 10.06.1993 ist ein gutes Beispiel dafür und wird auch von den ethnischen Hellenen geteilt. Die Kriegserklärung fand ihre Triebfeder in der Sorge der Lakota um ihr kulturelles Erbe, die Enteignung und Vernichtung ihrer Tradition.

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Wird die Re-Indigenisierung von der Mehrheit des Volkes oder Stammes getragen, ist der Wandel vollzogen. Das Heranführen der Jugend an die eigene Kultur und die Wiedereinführung von traditionellen Strukturen soll die Nachhaltigkeit des Vorhabens garantieren. Doch Re-Indigenisierung umfasst nicht nur die Restauration der ethnischen Identität innerhalb der eigenen Gemeinschaft, sondern auch die Öffentlichkeitsarbeit, den politischen Aktivismus in der Außenwelt sowie die Gründung von Schulen und Institutionen, die Zurschaustellung von Ethnizität durch das Tragen von Schmuck, traditioneller Kleidung oder durch öffentliche Zeremonien, die Botschaften nach innen und außen senden. Eine besondere Bedeutung kommt der Anerkennung der eigenen Kultur als eigenständige Größe von der Weltöffentlichkeit zu, weil nur dann andere Völker, Menschenrechtsorganisationen und internationale Instanzen im Hinblick auf politische Missstände und Verwerfungen sensibilisiert werden können. Der daraus resultierende öffentliche Druck kann Regierungen zwingen oder dazu bewegen, indigenen Minderheiten weitreichende Rechte zu gewähren, ihr Landrecht zu achten oder ein solches zu erlassen. Mit einklagbaren Rechten und auf eigenem Land können die Indigenen ihre Gemeinschaft in ihrem Sinne neu organisieren, ein eigenes Bildungssystem entwickeln und ihre eigene Lebensweise pflegen, ohne gestört oder diskriminiert zu werden.

Der Abschied von der dominierenden und der Fokus auf die eigene Kultur hilft einer Ethnie, sich selbst zu finden, zu akzeptieren und kulturell unabhängig zu werden. Ist der Ethnie (oder dem Stamm) am Kontakt oder gar an einer Öffnung zur Außenwelt gelegen, hat sie die Möglichkeit, sich erst dann zu öffnen, wenn sie dazu bereit ist und entschieden hat, in welcher Beziehung sie zur dominierenden Kultur oder der Welt stehen möchte. Eine derartige Entscheidungsfreiheit setzt immer Autonomie voraus.

Die Re-Indigenisierung dient nicht nur einzelnen Ethnien, sondern stellt eine Erholung für die gesamte Ethnosphäre dar. Denn über den Weg der Re-Indigenisierung lässt sich die Vernichtung der eigenen Lebensweise und Identität so weit wie nur möglich rückgängig machen und der Schalter der Globalisierung durch Maßnahmen zur Indigenisierung der Wirtschaft (Anpassung der vorherrschenden Wirtschaftsweise an die eigene Kultur) ein Stück weit zurückdrehen, wodurch Freiräume für Alternativen entstehen können.