Rezension zu: Inge von Wedemeyer, Die Goldenen Verse des Pythagoras, Heilbronn 2001.
Das Buch “Die Goldenen Verse des Pythagoras” von Inge Wedemeyer hat die Goldenen Verse des Pythagoras
zum Hauptgegenstand. Die Goldenen Verse bilden die ethischen
Unterweisungen des Pythagoras und wurden von seinem Philolaos
aufgeschrieben. In ihrem Vorwort erklärt Frau Wedemeyer, dass bei
Pythagoras Religion, Wissenschaft und Leben eine Einheit bildeten; diese
“Einheit” ist eine Lebensweise, eine Philosophie, welche im Tun und
Wollen Ausdruck findet, wie die Autorin bemerkt. Sie zählt Pythagoras zu
einer Gruppe von “Geistesheroen”, denen sie Universalität zuspricht.
Wedemeyer will den Leser zu den “esoterischen Wissenschaften” geleiten,
ohne diese weiter zu definieren, in denen es um den Aufstieg “zu einer
immer tieferen Übereinstimmung mit dem Kosmos” gehe (S. 8). Das sei auch
das Anliegen der Goldenen Versen. Darum gehe es eigentlich in
jeder Religion, behauptet sie. Großteils besteht der Inhalt aus
Spekulationen, Deutungen und Überzeugungen der Autorin, die scheinbar
mit östlicher Spiritualität sehr vertraut ist. Sie
ist der Überzeugung, dass “tief denkende Menschen” zu allen Zeiten und
Orten “dieselben Wahrheiten entdeckt” hätten. Sie geht von der Existenz
universeller Wahrheiten aus. Aus einem Zitat des Philostratos, in dem es
heißt, dass die alten Religionen ihrem Wesen nach miteinander verwandt
sind, generalisiert sie mit der Schlussfolgerung: “Alle Religionen” sind
verschiedene Wege zum gleichen Ziel. Mit Pythagoras hat das am Ende
wenig zu tun. Zur Geschichte und Nachwirkung der pythagoreischen Schule
hat sie wenig geschrieben.
Dem
Vorwort folgt der griechische Originaltext und seine deutsche
Übersetzung. Leider weist die Übersetzung einige Fehler auf. So wurde
die “Zurüstung”, drei Sätze, die die eigentlichen Goldenen Verse
einleiten, falsch übersetzt. Grund hierfür war wohl das Substantiv Nomos.
Nomos bedeutet Brauch/Sitte, aber auch Gesetz. Demnach hätte die
Zurüstung folgenderweise übersetzt werden müssen: “Zuerst verehre die
unsterblichen Götter, entsprechend der Sitte. Ehre und achte den Schwur,
und halte die edlen Heroen heilig. Verehre die chthonischen Daimonen,
indem du wie geboten opferst.” Im Buch heißt es aber: “Vor allem verehre
die unsterblichen Götter, so wie es die Göttliche Ordnung lehrt. Ehre
in frommer Scheu das Gelübde und die edlen Heroen, halte sie heilig.
Verehre die in der Unterwelt wirkenden Daimonen, indem du opferst, wie
es geboten” (S. 17). Im griechischen Text steht nichts von einer
“Göttlichen Ordnung”. Diesen Fehler sollte der Verlag korrigieren.
Die
“Goldenen Verse” sind vielmehr als eine bloße Unterweisung in
pythagoreisches Denken. In ihnen sind wertvolle Element griechischer
Psychologie und Pietät festgehalten. Sie erteilen guten Rat und weisen
immer auf den Pfad zu den Göttern hin. So heißt es gleich zu Beginn:
Unsere Freunde sollen wir nach ihrer Gesinnung aussuchen. Ein weiser
Rat, denn mit unseren Freunden wählen wir auch unsere Lebensrichtung,
wie Wedemeyer richtig sagt. Außerdem wird uns geraten, nichts zu tun,
wovon wir keine Ahnung haben, aber zu lernen, was notwendig ist,
Schlechtes in uns zu bekämpfen (z.B. den Geiz) und uns über unsere guten
Taten zu freuen. Die Goldenen Verse erweisen sich als ein Handbuch fürs
Leben. Sie bringen uns eine “sittliche, nutzbringende Lebensführung”
nahe, durch die der Mensch die Freundschaft mit den Göttern, die Psyche
mit dem Leib schließen kann. Das Interessante an den Goldenen Versen ist
die Vorstellung, dass Schicksal und freier Wille nahe beieinander
liegen. Das erinnert stark an Homeros. Was uns das Schicksal aufbürdet,
das müssen wir ertragen, gleichzeitig aber sollten wir uns Möglichstes
tun, um der Not abzuhelfen. Dies ist unter anderem mit Maßhaltung und
Zügelung unserer Leidenschaften zu bewerkstelligen.
Immerzu
wird die Einheit und Harmonie betont, Schlüsselbegriffe zum Verständnis
des Pythagoreismus. Die Harmonie, der er im Kosmos gewahr wurde, hat
Pythagoras ins Menschliche Maß übersetzt. Denn Iamblichos zufolge
vernahm Pythagoras den Klang der Himmelskörper. Heute wissen wir, dass
diese tatsächlich einen Klang erzeugen, der auch auf Tonträgern
aufgezeichnet wurde. Zeus und die anderen Götter werden angerufen, uns die Augen zu öffnen und uns ans Ziel zu bringen.
Wedemeyer
zitiert viel aus den Werken des Iamblichos und anderen spätantiken
Philosophen, versäumt aber die Quellen anzugeben. Auf Seite 30 stoßen
wir auf eine sehr interessante Hymne an Zeus aus den Diatheken des
Pythagoras. Wer Zeus nur aus der Mythologie kennt, wird seine
Vorstellung vom griechischen Göttervater sicherlich revidieren müssen.
“Zeus ist der Odem des Alls (…). des Weltalls gewaltiger Urgrund”, heißt
es in der Hymne. Ab hier fängt Wedemeyer damit an, die Grundzüge der
Lehre und Kosmologie des Pythagoras “in mehreren Abschnitten mit
fettgedruckten Übertiteln unterteilt” vorzustellen. Die Autorin erklärt
nicht nur, sie deutet auch. Und die Gültigkeit dieser Deutungen sind
deshalb anzuzweifeln, weil sie ihren Ausgangspunkt nicht in der
griechischen Perspektive nehmen. Mit Emanuel Swedenborg, Jesus von
Nazareth und dem Hellenentum fremden Konzept des “Karma” verdunkelt sie
die pythagoreische Schule, welche sie davor mit Iamblichos, Apollonios
und Porphyrios erhellt hat.
Die Autorin ist sichtlich bemüht, Begriffe, die im Buch auftauchen, zu erklären. Die Heroen, von denen in der Zurüstung
die Rede war, sind Menschen der Vorzeit, die Wedemeyer mit den Meistern
im Fernen Osten vergleicht. Damit vermittelt sie dem Leser einen
Eindruck vom Rang, den die Heroen bei den Griechen einnehmen. Die
Daimonen bezeichnet sie als eine “Klasse zwischen den Göttern und
Heroen” (S. 26), was sicherlich zutrifft. Allgemein wird die Bedeutung
griechischer Begriffe, die in den Goldenen Verse und in den zahlreichen
Zitaten aufkommen, von der Autorin gut erklärt. Die Bibliographie am
Ende des Buches enthält viele und gute Bücher zur griechischen Kultur,
Pythagoras und der griechischen Philosophie im Allgemeinen.
Alles
in allem fand ich die Idee des Buches gut, nur bei der Umsetzung hapert
es etwas. Es fließen die persönlichen Überzeugungen der Autorin in
hohem Maße mit ein und die Interpretationen tragen das ihre dazu bei,
den Pythagoreismus abendländisch und fernöstlich zu färben, und das
sicher nicht Sinn der Sache. Wer sich für Pythagoras interessiert, dem
kann ich das Buch sehr wohl empfehlen, er soll nur nicht bei dieser
Lektüre bleiben, sondern anschließend mit der Lektüre akademischer Werke
(z.B. Guthrie) fortfahren. Anders kann ein solides Verständnis der
pythagoreischen Schule nicht erarbeitet werden.