13.06.2018

Epiktet, Steinmann (Übers./Hg.): Handbüchlein der Moral

Rezension zu: Epiktet, Steinmann (Übers./Hg.): Handbüchlein der Moral: Griechisch/Deutsch, Reclam, Stuttgart 2004.

In der vorliegenden Ausgabe von Epiktets “Encheiridion” (“Handbüchlein”) finden sich die Lehren und die Biographie des stoischen Philosophen. Die Ausgabe ist zweisprachig. Auf der linken Hälfte des Buches steht der griechische Text und auf der rechten Seite seine Übersetzung. Es gibt keine Einleitung, das Buch beginnt schon ab der vierten Seite mit dem “Encheiridion”. Das Besondere an dieser Ausgabe ist, dass dort wo der eigentliche Text, seine Übersetzung, die Anmerkungen zum Text und die Literaturhinweise enden, ein Nachwort beginnt, vom Leben und der Tradition Epiktets handelnd, das gut geschrieben ist, sehr wertvolle Informationen enthält und – last but not least – einen Einblick in die hellenische Weltanschauung gewährt.

Epiktet ging es um die Befreiung des Menschen seiner Zeit von “Unruhe, Trauer, Furcht, unerfülltes Begehren, gescheitertes Meiden, Neid und Eifersucht” (S. 93). Ein friedliches Leben war ihm das höchste Gut. Lieber frei von Leid den Hungertod erleiden, als “ständig innerlich aufgewühlt” leben (S. 19), war sein Kredo. Leider ist über Epiktets Leben wenig bekannt, wir wissen aber, dass er in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts u.Z. geboren wurde und einen Teil seines Lebens als Sklave in Rom verbrachte. Er starb im Jahre 120 Nikopolis in Epirus, wo er die stoische Philosophie bis zu seinem Lebensende lehrte. Die Erfahrung der Sklaverei prägte sein Denken. Ihm war die äußere Freiheit verwehrt, also lenkte er sein Bewusstsein nach Innen. “Unerschüttert nahm er es hin”, als sein “Herr” “ihm willentlich ein Bein brach, wodurch er zum Krüppel wurde”. Es versteht sich von selbst, dass solche Erlebnisse nicht spurlos an einen Menschen vorbeigehen. Äußere Umstände konnte er nicht ändern, dafür aber seine Haltung dazu bestimmen: Also wurden Selbstbeherrschung und Selbstwahrnehmung seine Themen.

Sein Leben veränderte sich so richtig, als er den Stoiker Musonius kennen lernte. “Dieser Lehrer begeisterte Epiktet und prägte sein Denken” (S. 96) und brachte ihn in Kontakt mit dem Stoizismus, der zusammen mit dem Platonismus und Epikureismus zur bedeutendsten Schule der griechischen Philosophie und zur Hauptstütze der hellenischen Tradition und Religion in der Spätantike avancierte. Seine (leider sehr lückenhafte) Biografie zeichnet die Konturen eines aufrechten und geradlinigen Mannes.

Der Text ist locker gehalten und richtet sich nicht an den Experten, sondern an Laien. Das Wort “Philosophie” soll hier also bitte nicht abschrecken. Seine auf Papier gebrachten Gedanken und Lehren sind leicht verständlich und schon allein deshalb lesenswert, weil sie Menschen wie Seneca, Cicero und Plutarch beeinflussten. Epiktets Augenmerk lag auf die “praktische Ethik”, auf das tugendhafte Ethos des Alltags.
Er war der Überzeugung, nicht die Dinge selbst machen uns unglücklich, sondern der Wert, den wir ihnen beimessen. Der Mensch ist nach Epiktets Anschauung für sein Glück selber verantwortlich. Doch ist ihm dieses Glück solange verwehrt, wie er keinen Wert auf Selbsterziehung und Selbstbeherrschung legt. Er erklärte die sittliche Vollkommenheit zur obersten Priorität und propagierte unablässig die “Ehrfurcht vor der eigenen [unantasbaren] Menschenwürde” (S. 102).
Alle Menschen sind für Epiktet Kinder des Zeus/Gottes. Die Beziehung zu diesem Gott war für Epiktet sehr wichtig; sie steht sogar “im Zentrum” seiner Lehre. Im Hellenentum, insbesondere bei Epiktet ist die Welt göttlich und lebendig. Alle ihre Teile, somit auch wir Menschen, stehen mit einander und mit Zeus/Gott in Verbindung. Epiktet: “Du hast einen Teil Gottes in dir” (S. 103). Deshalb haben wir so zu leben, dass wir den Gott in uns nicht mit niederen Gedanken oder Absichten beschmutzen.

Alles, was geschieht, ist Epiktets Meinung nach gut, weil von Gott gesandt. Hier macht sich ein Determinismus bemerkbar, der sicherlich nicht von allen geteilt werden kann. Mich faszinierte vor allem Epiktets Sicht auf die Seele. Er schließt ein persönliches Fortleben der Seele nach dem physischen Tod aus, weil er sie mit dem All vereint wissen will. Im Nachwort wird außerdem bewiesen und gut dargelegt, dass Epiktets Gedanken zwar einen gewissen Einfluss auf das “Neue Testament” ausübten, diesem aber im Kern wesensfremd sind. Die stoische Lehre ist mit dem Christentum unvereinbar, die Gründe hierfür sind: der stoische “Polytheismus, die Eidesformeln, das Verlassen des Lebens im Selbstmord, der Stolz und die Allmacht des geradezu vergöttlichten Menschen” (S. 105-106).

Das “Handbüchlein” ist eine Anleitung für ein tugendhaft geführtes Leben. Epiktets “Regeln” sind praktizierbar und bringen inneren Frieden und Gelassenheit mit sich. So sagt er zu seinem anonymen, frei erfundenen Dialogpartner im Buch, dass ein verstörender oder aufbrausender Gedanke nur eine Illusion sei, nicht das, was er “zu sein scheint” (S. 7). Er lehrte, dass wir alle Verlockungen der Seele, ob sie uns nützlich sind oder nicht, auf ihr Wesen hin untersuchen sollten. Allgemein ist Epiktets Blick nie auf die äußere Form gerichtet, vielmehr auf das tatsächlich Wirkliche, das uns allein zu interessieren braucht. So ist der Tod nicht schrecklich, “sondern nur die Meinung, er sei etwas Furchtbares” sei schrecklich. Unser Glück oder Unglück liegt also in unserer Wahrnehmung.
Epiktet will ein freies Leben anbieten, eines, das nicht von Täuschungen, Projektionen und Abhängigkeiten geknechtet ist. Um so leben zu können, müssen wir lernen im adäquaten Verhältnis zur Wirklichkeit zu stehen und aufhören, “anderen Vorwürfe zu machen”, wenn es uns schlecht geht (S. 11). Wir lernen, echte Freunde von Freunden in Anführungszeichen zu unterscheiden, wenn diese uns um Unterstützung in Unternehmungen bitten, die unserer Selbstachtung und des Guten in uns abträglich sind. Außerdem will er uns Leid, durch fehlende Erkenntnis verursacht, ersparen, indem er uns darauf aufmerksam macht, dass wir nicht verändern können, worauf wir keinen Einfluss haben, aber uns um Dinge bemühen müssen, die möglich sind. Der Rest entzieht sich unserer Kontrolle und sei deshalb nicht von Bedeutung. Dem außerhalb unserer Einflusssphäre befindlichen Schlechten schenkt Epiktet seinen ganzen Gleichmut, aber nicht den Freuden des Lebens.

Er bringt uns bei, wie wir mit Verleumdern umgehen können, ohne verletzt zu werden. Nicht der Hass unserer Gegner oder ihre bösen Worte verletzen uns, sondern unsere Meinung von ihren Gehässigkeiten; dass wir ihnen also Bedeutung beimessen. Außerdem lehrt er, was wir von den Menschen zu erwarten haben, wenn wir anfangen philosophisch zu leben und wie wir am Ende doch ihre Achtung erlangen, indem wir uns auf das konzentrieren, was wir beherrschen können: unsere Haltung und unser Verhalten… Die Bandbreite der von ihm behandelten Themen ist schier unendlich (Freundschaft, öffentliches Leben, Pflichtbewusstsein, Haltung zur Gesellschaft, Tugendhaftigkeit, Auftreten in der Öffentlichkeit u.v.m.). Was im Buch auch angesprochen wird, ist die Frage nach der Beziehung der Menschen, die die Philosophie ausüben mit ihrer konkreten Umwelt und den Verwandten. Ich fand diesen Punkt sehr wichtig, denn an dieser Stelle berät Epiktet alle Philosophie-Neulinge, wie sie mit den Menschen klarkommen sollen, vor allen mit jenen, die sie schon bereits kannten, noch lange bevor sie anfingen sich mit Philosophie zu befassen. Soll man schweigen? Wie soll man sich verhalten, wenn in einer Runde ein Philosoph zitiert wird? Soll man Stellung beziehen oder lieber sich bedeckt halten? Und wie geht man mit dem Spott oder mit abwertenden Kommentaren bezüglich der eigenen philosophischen Praxis um? Epiktet hat auch hierzu etwas zu sagen und seine Ratschläge sind sehr hilfreich, denn irgendwann stellt sich die Frage, ob man diesen Aspekt seines eigenen Lebens vor den anderen Menschen verbergen oder ihn offen zeigen sollte.

Epiktet war ein bedeutender Philosoph. Er vertrat einen traditionellen Stoizismus, über den der Stoiker und ethnische Hellene Vlassis G. Rassias schrieb, er sei eine Weltanschauung “der Würde und Freiheit”. Die Vernunft und der Kosmopolitismus der Stoa richtet sich nicht nur an Römer oder Hellenen, sondern an alle Menschen, ob Polytheisten oder nicht. Deshalb können alle Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen von der “geistigen Aristokratie” der Stoa profitieren.
Reclam hat wieder einmal eine gute Arbeit geleistet. Die Buchstaben hätten etwas größer sein können, aber das ist nicht so schlimm. Ich empfehle das Buch weiter, weil die Übersetzung gut gelungen ist und das Nachwort wertvolle Hintergrundinformationen für den Leser bereithält, welche für das Verständnis Epiktets und seiner Gedanken hilfreich sind.