23.05.2018

Griechische Weltanschauung heute

Griechische Weltanschauung heute
27. Thargelion des 2. Jahres der 699. Olympiade

Was bedeutet griechische Weltanschauung in der heutigen Zeit? Wie sehen die ethnischen Hellenen die Welt? Welches ist das Bezugssystem der Hellenen heute? Diese Frage wird uns nicht selten gestellt. Rein logisch gesehen, ist diese Frage durchaus berechtigt und muss daher auch zufriedenstellend beantwortet werden. 


Griechische Weltanschauung in der heutigen Zeit

Griechische Weltanschauung in der heutigen Zeit bedeutet gleichzeitig griechische Lebensweise in der heutigen Zeit. Denn die allgemeine Lebensweise und die Haltung zur Welt des Werdenden folgen aus der Weltanschauung, aus der Art und Weise, wie wir die Welt sehen und unseren Platz, unsere Stellung darin erfahren. Wir haben bereits oft darauf hingewiesen, dass es nicht unser Anliegen sei, die «Antike» in die «Moderne» zu transportieren, schon gar nicht zurück in die «Antike» zu reisen, zumal für uns, die wir ein zyklisches Verständnis der Zeit besitzen und ein anderes Verständnis von Fortschritt als die westliche Welt, kein Anlass dazu besteht. Für uns stellt sich die Zeitfrage nicht, weil wir nicht in Kategorien der Zeit, sondern der Kulturen denken. Unser Interesse gilt der «Kultur». Wir revitalisieren unsere Kultur, die hellenische Lebensweise, bringen also den hellenischen Menschen zurück in das alltägliche Leben. Dabei kommt uns die Kontinuität der griechischen Sprache, die Kontinuität in vielen Bräuchen und Märchen, die die Zeit unter einem christlichen Deckmantel überdauert und den Kulturmord überlebt haben, zu Hilfe. Die hellenische Kultur zu revitalisieren, bedeutet nicht die hellenische Kultur der Zeit X oder Y zurück ins Leben zu holen, und schon gar nicht die wirtschaftlichen Verhältnisse der Antike, sondern die hellenische Kultur in ihrem Wesenskern zu revitalisieren und den roten Faden aufzunehmen, der zuletzt in Mystras und dann auf den Ionischen Inseln gesponnen wurde. In diesem Prozess müssen Anpassungen vorgenommen werden, selbstverständlich, jedoch sprechen wir hier nicht von Anpassungen an die heute dominierende Kultur, sondern an die allgemeinen Rahmenbedingungen der Zeit und der Gesetze. Diese Anpassung geht so weit, dass die hellenische Kultur in ihrem neuen Umfeld Wurzeln schlagen, sprich: überleben kann. Das ist das Kriterium: Die Überlebensfähigkeit, nicht nur jetzt, sondern auch für die Zukunft, für die nächsten Generationen. Die Praxis zeigt, dass die Rehellenisierung, die Revitalisierung der hellenischen Kultur nicht nur machbar ist, sondern vor allem in der Familie und in der Gemeinschaft funktioniert. Die Möglichkeit der Rehellenisierung ist durch günstige Konstellationen bereits gegeben, nur darf sie nicht in zu engen Grenzen gedacht und beispielsweise nur auf die Sprache begrenzt werden, sondern das gesamte Spektrum der hellenischen Kultur umfassen. Sie ist als Samen in uns allen angelegt, die wir mit der griechischen Sprache und Mythologie aufwachsen, sei es nun in Griechenland oder in der Diaspora. Diesen Samen gilt es zu gießen und mit Hingabe zum Erblühen zu bringen.

Die Welt sehen – mit welchen Augen?

Doch wie können wir diesen besonderen Samen pflegen und gießen, dass aus ihm der hellenische Mensch erblüht? Durch die Aneignung der griechischen Weltanschauung. Das ist kein Automatismus und geht besonders für Menschen, die nicht in einer hellenischen Familie groß geworden sind, mit Mühen einher, auf die viele nicht vorbereitet sind. Wie denn auch? Schließlich müssen wir uns nicht (nur) von äußeren Instanzen lossagen, sondern vor allem von Ideen und Normen befreien, die viele von uns quasi mit der Muttermilch aufgenommen haben und die wir deshalb für selbstverständlich halten. Das heißt, wir müssen uns unseres kulturellen Blickwinkels bewusst werden und diesen dann aufgeben. Das sind die «Mautgebühren», die wir auf dem Weg zum Allerheiligsten der Hellenen entrichten müssen. Dabei müssen wir nicht nur unseren Blickwinkel verändern, sondern auch unser Verstehen und unsere Rolle in der Welt neu definieren. Den Göttern sei Dank stehen wir damit nicht alleine da, denn die Hellenen haben eine große Menge an schriftlichen und anderen Werken hinterlassen, und viele davon haben ihren Weg in unsere Zeit gefunden und stehen uns zur Verfügung bei unserer Initiation in die hellenische Kultur. Denn die Aneignung der griechischen Weltanschauung ist genau das: eine Initiation. Dabei stellen wir uns immer gewisse Fragen: Wie würde ein «antiker» Grieche in dieser Situation handeln? Wie würde ein «antiker» Grieche dies oder jenes sehen? Diese Fragen sind äußerst erhellend, weisen ständig auf die griechische Literatur hin und erleichtern unsere «Quest» in erheblichem Maße, weil sie unsere Prioritäten bestimmen. Wie würde ein «antiker» Grieche diesen Baum dort drüben sehen? Was würde er sehen? Und was müssen wir in der Folge im selben Baum erblicken? Eine seelenlose Holzpflanze? Nein, das Heilige. Jeder Baum ist beseelt und heilig. Daraus folgt eine bestimmte Beziehung oder ein bestimmtes Verhalten gegenüber diesem Baum, unserer Umwelt insgesamt. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ergibt die Welt einen anderen Sinn, der unserem Leben eine bestimmte Richtung gibt und unser Verhalten bestimmt. Die griechische Weltanschauung – die ein wichtiger Baustein der ethnischen und kulturellen Identität der Hellenen ist – wird im Alltag zur Lebensweise und formt damit unser Leben hier auf Erden und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Es ist eben diese Weltanschauung, die uns befähigt, den religiösen Monotheismus wie auch den kulturellen Monotheismus und den politischen Monotheismus, ob in seinen theistischen oder säkularisierten Formen zu durchschauen und den Ideologien der Moderne (Nationalismus, Internationalismus, Liberalismus, Leninismus usw.) eine Absage zu erteilen, eben weil sie der hellenischen Seele fremd und die sich gegenseitig befruchtenden Nebenprodukte einer anderen, der christlichen Kultur sind. Es ist aber auch diese Weltanschauung die uns befähigt, teils falsch verstandene, teils missbrauchte und misshandelte griechische Institutionen, Konzepte und Begriffe wie «Demokratie» und «Politik» wirklich zu verstehen und sich diesbezüglich neu zu positionieren. Denn das Hellenentum ist nicht nur eine kollektivistische, sondern vor allem auch eine politische Kultur. Doch mit dem Begriff «Politik» meinen wir nicht das heute darunter Verstandene (Parlamentarismus, Parteien, Ideologien), sondern schlicht und einfach «die Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten». Und in dieser Beschäftigung mit der Welt lassen wir uns vom griechischen Wertesystem leiten.

Das Bezugssystem der Hellenen

Das Bezugssystem der heutigen Hellenen ist das Bezugssystem der alten Hellenen: die Arete. Das Wort Arete bedeutet so viel wie Tugend, Exzellenz, Tüchtigkeit und wird als allgemeiner Oberbegriff zur Bezeichnung des hellenischen Wertesystems verwendet. Das ist unser Bezugssystem. Es ist dieses Bezugssystem, aus dem teilweise die heutigen Menschenrechte der Französischen Aufklärung und Revolution hervorgegangen sind. Aber das ist nicht der einzige Bereich, in dem die hellenische Seele «hochaktuell» ist. Auch in der Kosmologie, Biologie und Psychologie ist eine ähnliche Aktualität gegeben, aber das nur am Rande. Schließlich wollen wir uns hier nicht rechtfertigen, sonst wäre unsere Tradition tot. Wenn wir aber vom hellenischen Wertesystem sprechen, von welchen Werten sprechen wir überhaupt? Nun, die vier Haupttugenden der Hellenen sind die Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit – letztere natürlich nur im menschlichen Maß. Diese Werte werden von der Religion, der Tradition vermittelt, aber vor allem von der Paideia, dem griechischen Bildungs- und Erziehungssystem. Aber das hellenische Wertesystem ist nicht nur die allgemeine Tradition, Homeros und Hesiodos, denn das hellenische Wertesystem liegt auch in den Maximen des delphischen Orakels, in den Sentenzen der vorsokratischen Philosophen, in der Nikomachischen Ethik und vor allen anderen in der Mythologie. Ja, in den Mythen, denn die hellenischen Werte sind zum Teil in Mythen chiffriert. Ohne Arete und Paideia kein Hellenismos. Deshalb ist beispielsweise der Oberste Rat der ethnischen Hellenen (YSEE) bestrebt, hellenische Schulen und Institutionen in Griechenland (wieder) zu schaffen, die im vom YSEE organisierten «Mythologischen Seminar für Kinder», das am alljährlichen «Athens Science Festival» teilnimmt, bereits einen Vorläufer haben. Nur so kann die «Reproduktion» des hellenischen Menschen auf gesellschaftlicher Ebene gelingen. Dieses Anliegen ist schon allein deshalb von äußerster Bedeutung für die Hellenen, weil der Erziehungsauftrag des «griechischen» Staates gemäß Verfassung darauf abzielt, die Schüler zu «guten Christen» zu formen: «In allen Mittel- und Grundschulen bezweckt der Unterricht die sittliche und geistige Erziehung und Entwicklung des nationalen Bewußtseins der Jugend auf der Grundlage der ideologischen Richtlinien der hellenisch-christlichen Kultur» (Griechische Verfassung, Artikel 16.1). Im Gegensatz dazu ist das Ziel der hellenischen Paideia die «Kalokagathia», das heißt: gute und freie Bürger hervorzubringen. Ohne das hellenische Wertesystem ist der Hellenismos tot, jede Anstrengung vergebens, jede Kulthandlung bloßes Reenactment. Da der Hellenismos an keiner «Integration» in die sogenannte «hellenisch-christlichen Kultur», wie die Romiosini gern und häufig bezeichnet wird, interessiert ist, kann das hellenische Wertesystem zu Reibungen mit der Mehrheitsgesellschaft führen, die aber auszuhalten sind, sonst würde der Hellenismos den Baustein seiner Identität preisgeben und zu einem Schatten seiner selbst verblassen. Außerhalb Griechenlands besteht kein solches Reibungspotential, weil die Staaten, in denen sich die griechische Diaspora niedergelassen hat, stark von der Aufklärung beeinflusst wurden, säkularisiert sind und eine in religiöser Hinsicht werteneutrale Verfassung haben. Hinzu kommt, dass viele sozialpolitische Rechte und Werte, die der Westen als seine Errungenschaften betrachtet, aus der hellenischen Kultur stammen. Dennoch kann das hellenische Wertesystem hier und da zu Spannungen kommen, wenn es zum Beispiel mit dem christlichen und islamischen Wertesystem kollidiert oder mit der abendländischen Moral in Berührung kommt, sei es nun in der Schule oder am Arbeitsplatz. Doch Konflikte und Streitereien gehören zum Leben und müssen, auf Vernunft und nicht auf Affekt aufbauend, mit dem besseren Argument und einer gesunden Kompromissbereitschaft beigelegt werden. «Gewinne durch Überredung, nicht durch Gewalt», rät uns Brias von Priene. Wir folgen der anzestralen Weisheit auch im Streit, so fasst der hellenische Mensch im alltäglichen Leben Fuß und ebnet den Weg für die nächsten Generationen. Besonders in solchen Situationen beweist sich das hellenische Wertesystem stets aufs Neue und gibt uns die Kraft, unseren Weg zu gehen, aufrecht zu bleiben und standzuhalten. Unser Ziel ist es nicht, «gute» und besonders biegsame Arbeiter, Konsumenten, Wähler oder gar Untertanen zu sein, sondern gute Menschen, die dem Stück Zeus in uns, der Vernunft Rechnung tragen und in Ehren halten. Das ist der Kern unseres Wertesystems.

Das zentrale Anliegen der Rehellenisierung ist also nicht die Reise in irgendeine «Vergangenheit», sondern die Rückkehr des hellenischen Menschen und logischerweise die Revitalisierung der Kultur, die diesen Menschen hervorbringt und ihm seine Typizität verleiht. Die Antwort der hellenischen Weltanschauung auf das Hier und Jetzt ist die Arete. Dieses Tugendsystem ist für uns von zeitloser Bedeutung und der einzige Weg für den Hellenismos, seine Eigenständigkeit und Eigenheit inmitten einer sich selbst zerstörenden monotheistischen Welt zu wahren und im «Heute» Wurzeln zu schlagen, um den kommenden ungetauften Generationen von «Morgen» Schatten zu spenden und seine süßen Früchte.