Ein
US-hellenischer Polytheist stellte mir neulich die Frage, bis zu
welchem Grad der Hellenismos eine Anpassung an heutige Gegebenheiten
zulässt. Athen sei zwar ein »konstruktiver Ausgangspunkt«, denn
das religiöse System Athens ist sehr gut dokumentiert und der
attische Kalender ist vollständig erhalten, aber die Religion war
damals eine extrem lokale Angelegenheit. Die Frage lautet nun, ist es
besser die religiöse Praxis Athens fehlerfrei zu rekonstruieren oder
ist es nicht besser, zwar dem athenischen Modell zu folgen, aber nur
dahingehend, eine religiöse Praxis zu schaffen, welche der eigenen
lokalen Umgebung entspricht? Sollen wir den »Ritualkalender« Athens
befolgen, auch wenn wir in Somalia, England oder in Kalifornien (USA)
leben oder sollte die religiöse Praxis in all diesen Städten eine
andere sein, weil auch in der Antike von Polis zu Polis ein anderer
Hellenismos gepflegt wurde?
Die
Frage ist berechtigt, denn wie sollst du den Hellenismos
rekonstruieren, wenn du nicht weißt wie du vorgehen oder wo du
anfangen sollst? Ich antwortete, dass ich in der BRD lebe und den
heutigen – nicht den antiken Hellenismos – praktiziere, ohne neue
Elemente in das religiöse Gefüge einzubauen, also ohne den
Hellenismos zu verändern oder zu modernisieren, was ihn seiner
Identität berauben würde. Aber es versteht sich von allein, dass
jeder Hellenismos nur ein angepasster sein kann. Der Kern des
Hellenismos ist und bleibt, trotz aller Anpassung, im klassischen
Athen zu finden, also in der Zeit bevor der willkürliche/ungefilterte
Synkretismus, die anatolischen Elemente, der irrationale spätantike
Mystizismus, die Hermetik und das Christentum, der antiken Seele das
»Genick« brachen, d.h. als der hellenische Stil unverfälscht war.
Und
Athen bietet sich deshalb als Grundlage an, weil sie die einzige
Polis ist, über die wir so viel wissen. Klar, auch der spartanische,
kretische etc. Kult ist hellenisch und gehört zum Hellenismos, denn
dieser ist schließlich eine ethnische Religion, und wie alle
ethnischen Religionen ist auch er vielfältig und beinhaltet alle
traditionellen religiösen Praktiken, Anschauungen und die
Weltanschauung der hellenischen Ethnie. Aber wir wissen nicht so viel
über Sparta wie über Athen. Es war nur Athen, das diese Rolle
übernehmen konnte.
Doch
der Hellenismos ist nicht nur Athen; wir müssen auch die späteren
Entwicklungen berücksichtigen, und damit ist die Spätantike
(Sallustius, Julian) und das Mittelalter gemeint (Plethon, Marullus).
Wir können nicht nur auf die klassische Zeit schauen und die spätere
Entwicklung ignorieren, schon deshalb nicht weil der Hellenismos im
Mittelalter auf philosophischer Grundlage erneuert wurde und nicht
die Religion des klassischen Athen war. Der Hellenismos beinhaltete
seit der Spätantike auch die Bildungstradition, Weltanschauung, die
politischen Ansichten und das Tugendsystem der Hellenen, aller
Hellenen, nicht nur der Athener der klassischen Zeit. Zwar veränderte
sich der Hellenismos nicht, aber er entwickelte sich weiter. Und wir
knüpften an der Zeit an, als der Hellenismos offiziell aufhörte zu
existieren. Wir können also nicht in Athen verharren, auch wenn
diese die Grundlage bildet. Das zum Thema Athen.
Außerdem
dürfen wir nicht vergessen, dass der Hellenismos schon an die
heutige Zeit angepasst ist, aber eben nicht an die Moderne. Deshalb
kann er schließlich funktionieren. Da wir keine Tempel haben,
konzentrieren wir uns auf die Altäre. Wir opfern keine Tiere den
Götter, denn wir folgen der Spätantike in diesem Punkt und meinen,
dass diese Vorgehensweise auch eine perfekte Lösung ist Miasma
(»Befleckung«) zu vermeiden. Wäre der Hellenismos nicht an das
Hier und Heute angepasst, könnten wir ihn gar nicht praktizieren,
deshalb scheint die Frage etwas »künstlich«. Wir konnten und
können nicht alles rekonstruieren, denn vieles ist für immer
verlorengegangen und anderes ist nur zum Teil erhalten. Doch alles
war rekonstruiert haben ist seiner Abstammung nach antik griechisch.
Es steht allen Hellenen frei auch spartanische oder andere Feste zu
zelebrieren. Und ein Bürger von Rhodos kann Feste rekonstruieren,
die früher in seiner Nähe zelebriert wurden, also ist auch das
Lokale nicht gänzlich verschwunden, allerdings machte es einem
breiteren Konsens Platz und hält sich im Hintergrund auf.
Solange
wir historisch und kulturell richtig praktizieren und den Hellenismos
am Leben erhalten, wird dieser natürlich wachsen, sich entwickeln
und automatisch anpassen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der
Hellenismos bereits vor mehr als 30 rekonstruiert wurde. Die erste
öffentliche Orthopraxia fand im Sommer des Jahres »1987« in
Griechenland statt. Außerdem eint uns ein gemeiner Kalender, also
bleibt er wie er war, nur eben angepasst. Wenn einer keine
Bienenwachskerze kaufen kann, dann nimmt er eben eine weiße Kerze,
wenn er keine Opfergaben verbrennen kann, wird er sich mit
Weihrauchgaben begnügen müssen usw. Die Anpassung an heutige
Gegebenheiten, die tatsächlich von lokalen und persönlichen
Faktoren abhängig sind, fand nicht um der Erneuerung, Anpassung oder
Entwicklung willen statt – der entscheidenden Faktoren sind immer
Überlebensfähigkeit und Machbarkeit gewesen. Wir mussten den
Hellenismos bis zu genau dem Punkt an Heute anpassen und erneuern,
dass er in der modernen Welt überleben kann. Darum ging es, ihn so
zu gestalten, dass er leben und zu einer Option für Menschen werden
kann, die durch seinen Traditionalismus angesprochen werden.
Unser
Ziel bleibt die vollständige Restauration der griechischen Kultur
auf der Grundlage des antiken Humanismus, und das schließt eben auch
die Religion mit ein, die vom Rest nicht abgespalten werden kann, da
sie ein Aspekt des Hellenentums ist.
Doch
eine Restauration des Hellenismos hätte es nie geben können, ohne
Anpassung und Erneuerung. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir keine
Reenactment-Bewegung oder antike Griechen sind. Wir leben Heute,
gehören in diese Zeit und weder wollen noch können wir in die
Vergangenheit (welche denn?) zurückkehren oder diese ins Heute
überbringen. Wir wollen die Kultur wiederherstellen, nicht eine
Periode dieser Kultur. Dabei war es unerlässlich den Hellenismos ins
Heute zu »übersetzen«. Es musste so sein. Aber der Anpassung und
Erneuerung mussten auch Grenzen gesetzt werden, denn der Hellenismos
durfte nicht modernisiert werden, ist er doch eine Alternative zum
Christentum und zur heutigen westlichen Kultur, Denkweise und
Mentalität. Modernisieren wir ihn und passen ihn der modernen Welt
an, hört er auf eine Alternative zu sein.
Wir
sollten uns also nicht über die Machbarkeit einer solchen
Rekonstruktion den Kopf zerbrechen, denn sie ist längst Realität –
dank des Obersten Rates der ethnischen Hellenen (YSEE). Sogar
Evangelos Voulgarakis musste zugeben, dass der YSEE bezüglich der
Orthopraxie »doing its best«.
Hier
noch einmal, was die hellenische Religion ist und was sie alles
beinhaltet:
»Mit
dem Begriff ›ethnische hellenische Religion‹ wird die Summe der
›Nomizomena‹ [Anm.: der gebräuchlichen bzw. traditionellen
Anschauungen und Sitten] der ethnischen (nicht-christlichen) Hellenen
der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft über den Kosmos, die
Götter, die Natur, die Tiere und die Menschen gemeint. Die ethnische
hellenische Religion ist eine polytheistische, indigene, organische
und allen voran eine natürliche Religion. Sie wurde nicht von einem
oder mehreren Menschen, ›Propheten‹ oder ›Gottmenschen‹
geschaffen. Es handelt sich bei ihr um eine anfangs- und endlose
geistige ›Koevolution‹ des biologischen, sozialen, politischen
und kulturellen Wesens, das unter dem Begriff der griechischen Ethnie
bekannt ist.«
Vlassis
G. Rassias:
Unterschiede zwischen der griechischen und christlichen Religion,
griechisch.
»Griechische
Religion: die religiösen Überzeugungen und Praktiken der antiken
Hellenen. Die griechische Religion ist nicht identisch mit der
griechischen Mythologie, welche von traditionellen Erzählungen
handelt, jedoch sind beide eng miteinander verknüpft.«
Encyclopadia
Britannica: Greek religion, in: Encyclopadia Britannica Online
(zuletzt abgerufen am 24. Januar »2013«).
Das
heißt, auch die religiöse Praxis der Spartaner der klassischen Zeit
oder der Thebaner der archaischen Zeit und ihre Feste und
Anschauungen gehören zum Hellenismos, nicht nur Athen. Aber der
Hellenismos ist vielmehr als Athen, Sparta oder Theben: er ist all
das und noch viel mehr. Denn der Hellenismos schließt auch das
indigene Hellenentum der Spätantike, des Mittelalters und der
Neuzeit mit ein.