16.08.2019

Der Begriff «Paganismus» und der Hellenismos

Im Abendland ist es weiterhin üblich,[1] die ethnischen Traditionen, vor allem die des Altertums, mit dem unwürdigen Begriff «Paganismus» zu bestimmen,[2] dabei wird die Tatsache ignoriert, dass die ethnischen Religionen keine «Religionen» oder Glaubensgemeinden im heutigen Sinn waren, sondern ein wesentlicher Bestandteil sowohl der ethnischen Identität der Menschen als auch der politischen Ordnung ihrer jeweiligen Polis oder Heimat. Der «Paganismus» wurde von den frühen Christen erfunden, um diejenigen, die an ihren Kulturen und Traditionen festhielten, als «unzivilisierte Rohlinge» bzw. als «Dorftrottel» zu verleumden oder zu «bezeichnen», obwohl beispielsweise der Hellenismos sich innerhalb der Poleis entwickelte und die meisten Hellenen der christlichen Ära in großen Städten wie Athen oder Konstantinopel lebten, viele davon waren Ärzte, Philosophen, Rhetoriker und Mathematiker. Wie dem auch sei, die meisten Menschen, die mit dem Hellenismos in Kontakt kommen, wissen oder lernen recht schnell, dass wir diesen Begriff ablehnen, weil er Ethnien auf «Religionsgemeinschaften», die hellenische Identität auf ihren missverstandenen religiösen Aspekt reduziert.

Darüber hinaus suggeriert der Begriff «Paganismus» eine Einheit aller ethnischen Religionen, was natürlich nicht der Wahrheit entspricht. Außerdem dient der Begriff heute vielfach den «Neopaganisten» als Selbstbezeichnung, und das könnte wiederum eine Verbindung des Hellenismos zu neuen religiösen Bewegungen suggerieren, die ihm fremd sind. Zudem werden mit diesem Begriff, besonders im angelsächsischen Raum, die ethnischen Religionen mit neuen religiösen Bewegungen des Abendlandes vermischt («Neopaganismus», New-Age-Bewegung, Esoterik), die mit den ersteren unvereinbar sind. Das Ergebnis ist Verwirrung und eine falsche Vorstellung davon, was der Hellenismos wirklich ist und wofür er steht. Grundsätzlich kann der «Paganismus» alles und nichts bedeuten, besonders in unserer Zeit, in der die Menschen es vermeiden, sich eindeutig und klar verständlich zu äußern. Hinzu kommt, dass der Begriff vom Eigentlichen ablenkt und den Traditionen ihre Identität nimmt. Aus der hellenischen, römischen oder japanischen Tradition wird ein «Paganismus», was bedeutet, dass wir uns dann mit diesem Begriff, seiner Bedeutung befassen müssen, anstatt zu fragen, was «hellenisch», «römisch» und «japanisch» heißen soll. Im Hintergrund schwingt dabei immer das Christentum mit, aber das hat hier nichts zu suchen. Der «Paganismus» ist mit vielen Stereotypen beladen; er knüpft an ein Vorverständnis der Religion an, welches die abendlandzentristische Sicht, die für ein adäquates Verständnis der jeweiligen ethnischen Religion eher hinderlich ist, bestätigt und reproduziert.

Daher liegt es nicht in unserem Interesse, diesen pejorativen Begriff zu übernehmen,[3] ihn gar als Selbstbezeichnung bei uns einzuführen, zumal das ein Selbstverständnis wäre, das in Abhängigkeit zum Christentum stünde, weil der «Paganismus» in Relation zum Christentum definiert wird. Andernfalls würden wir den christlichen Antihellenismus befördern oder den Antihellenen in die Karten spielen, die den Hellenismos als «neopagan», okkultistisch etc. zu brandmarken versuchen. Aber eine derartige Selbstbezeichnung wäre auch kontraproduktiv, denn um unsere Kultur zu revitalisieren, müssen wir die monotheistische Kolonisierung unserer Imagination überwinden, ihre Begriffe (und die von diesen transportierten Bedeutungen), Stereotype, Schemata und Klischees hinter uns lassen. Abgesehen davon sind wir ja ohnehin keine «Paganisten» und schon gar keine «Neopaganisten», insofern stellt sich die Frage gar nicht. (Der «Neopaganismus» ist aus dem Okkultismus heraus entstanden, der wiederum ein Nebenprodukt des Christentums darstellt.)

Wir sind Hellenen, genauso wie die Lakota Lakota sind. Tatsächlich könnte der Hellenismos nur in dem Sinne «pagan» sein, wie Pierre Chuvin den «Paganismus» definiert: als »Religion der Heimat im engsten Sinne des Wortes« (P. Chuvin, A Chronicle of the Last Pagans, S. 9, Cambridge, MA /London: Harvard University Press, 1990). Im Griechischen gibt es ein viel besseres Wort für solche Religionen: «ethnisch» (εθνική θρησκεία → ethnische Religion). Natürlich steht es allen Menschen frei, sich selbst als «Paganisten» oder «Heiden» zu bezeichnen und als solche bezeichnen zu lassen. Damit haben wir kein Problem. Aber wir möchten nicht, dass der «Begriff» auch auf uns angewandt wird. Solange wir jedoch wissen, was und wer wir sind, können die Leute uns «Teufelsanbeter», «Paganisten» oder «Götzendiener» nennen, solange sie wollen. Es ändert nichts. «Wir … sind dem Geschlecht [genos] nach Hellenen, dafür zeugt sowohl unsere Sprache als auch die von den Vätern ererbte Bildung [paideia].» (Georgios Gemistos-Plethon in seinem Schreiben an Kaiser Manuel Palaiologos II., in: Teresa Shawcross, The Chronicle of Morea. Historiography in Crusader Greece, S. 257, Oxford 2009). Wenn wir das im Kopf behalten, spielt alles andere keine Rolle mehr.

«Der Ausdruck ‹Paganist›, der sich aus dem ursprünglichen lateinischen Wort Paganus (Bauer) ableitet, ist ein weiteres Schimpfwort, das seit dem 4. Jahrhundert von den siegreichen Christen verwendet wird, um die Reste der traditionellen Religionen verächtlich zu machen. Sie benutzten diesen Begriff für die Menschen, die ihren ethnischen Traditionen treu geblieben sind, um zu unterstellen, dass es sich bei diesen Leuten um ungebildete und ungehobelte Dörfler handle. In den meisten europäischen Sprachen wurde der Ausdruck jahrhundertelang verwendet, um sich auf die Ethniker zu beziehen.[4] Im 20. Jahrhundert wurde er von verschiedenen christlich geprägten Anhängern der Esoterik und New-Age-Bewegung mit dem Suffix -neo (nämlich als Neopaganismus) wieder eingeführt.[5] Der ‹Neopaganismus› geht uns nichts an. Er kann sogar ein künstlicher Trick sein,[6] um von der aktuellen Weltherrschaft der sogenannten ‹Monotheisten› abzulenken.»[7] (Oberster Rat der ethnischen Hellenen, Frequently Asked Questions about the Hellenic ethnic religion and tradition, Nr. 24, zuletzt abgerufen am 10. Juli «2013»).

Anmerkungen

[1] Ich meine die Wissenschaftsgemeinde, die eigentliche Religion (Christentum) und die neuen religiösen Bewegungen des Abendlandes (Okkultismus, «Neopaganismus» u.a.).
[2] Auch in der Romiosini setzt sich die Verwendung des «Paganismus» («παγανισμός») zunehmend durch, wobei er oft im Zusammenhang mit den Neofaschisten oder als Synonym für «Götzendienst» gebraucht wird. Dementsprechend ist der Begriff negativ konnotiert.
[3] Es gab Ausnahmen, wo der Begriff von ethnischen Hellenen in Griechenland für die Bezeichnung der traditionellen Götterkulte verwendet wurde, entweder, weil sie in einer laufenden gesellschaftlichen Debatte eingriffen, in welcher der «Paganismus» bereits zur Bezeichnung der ethnischen Religion verwendet wurde, um auf Veranstaltungen das zu verteidigen, was unter «Paganismus» gemeint und angegriffen wurde oder um einem Artikel einen öffentlichkeitswirksamen Titel zu geben («Der Paganismus der Spätantike»), zumal der Begriff «ethnische Religionen» in Griechenland unbekannt ist und große Teile der Bevölkerung unter «hellenischer Religion» die Orthodoxie verstehen. Aber das wurde nicht von allen gut aufgenommen und der Begriff stößt heute noch auf sehr wenig «Gegenliebe», und das hat seine berechtigten Gründe. Der «Ethnismus» hingegen, der von vielen als allgemeiner Begriff für die ethnischen Religionen favorisiert wird, mag zwar aussagekräftig sein, hat aber im heutigen Sprachgebrauch eine breitere Bedeutung angenommen (ursprünglich «ethnische Religion», heute eher «ethnische Identität» und «Philopatrie») und kommt in der Alltagssprache fast gar nicht vor.
[4] Wurde von den Hellenen rehabilitiert, indem er auf seine etymologische Semantik zurückgeführt wurde, und als Selbstbezeichnung neu eingeführt. Wo er früher den «Götzendiener» oder ganz allgemein den «Polytheisten» meinte, ist er seit einigen Jahrzehnten der Träger eines spezifischen Ethos und damit einer spezifischen Identität und Tradition, wobei er aus der Notwendigkeit nach einer Abgrenzung zu einer mehrheitlich christlich-orthodoxen Gesellschaft eingeführt wurde, in der alle «Hellenes» heißen und sich als solche verstehen, wodurch der «Hellene» allein nicht mehr viel aussagt. Jedoch wird der «Ethniker» von vielen als Selbstbezeichnung abgelehnt. Seit einigen Jahren beobachten wir, wie der «ethnische Hellene» den «hellenischen Ethniker» verdrängt und ersetzt, weil er viel konkreter ist. Sind sie unter sich, nennen sich ethnische Hellenen einfach nur «Hellenen», weil es keine Notwendigkeit zur Abgrenzung gibt. «Hellenische Ethniker» und «ethnische Hellenen» sind also eher für die Kommunikation mit der Außenwelt gedacht. Für die Hellenen ist das auch eine Frage der Selbstbestimmung. In letzter Zeit sind Bestrebungen von seiten einiger «Neopaganisten» in Griechenland zu beobachten, diese Begriffe zu vereinnahmen.
[5] Als religiöse Selbstbezeichnung. Den Begriff selbst gab es schon früher.
[6] Der «Neopaganismus» stellt sich als Alternative zum christlichen Monotheismus dar, ist indessen ein Produkt des Monotheismus, von seinen Vorstellungen, seiner Kultur durchdrungen, weshalb er sie auch reproduziert. Hinter den antiken Götternamen des «Neopaganismus» stehen christliche und kabbalistische Konzepte, seine Riten sind dem Okkultismus entnommen, der selber eine Schöpfung des christlichen Abendlandes ist. Der Okkultismus geht auf den christlichen Magier von Nettesheim zurück («De occulta philosophia»), der Begründer des modernen Okkultismus war der christliche Freimaurer und Voltaire-Gegner Eliphas Levi, der sich mehrmals abwertend über den Hellenismos äußerte. Mindestens seit der «Kriegserklärung der Lakota gegen die Ausbeuter der Lakota-Spiritualität» von 1993 wissen wir, dass die Differenzen zwischen «Neopaganismus», der New-Age-Bewegung im Allgemeinen und den ethnischen Religionen nicht allein theoretischer Natur sind, sondern von diesen Bewegungen eine Gefahr für die ethnischen Religionen ausgeht (Vernichtung, Missbrauch, Enteignung sind nur einige der Begriffe, die in der «Kriegserklärung» vorkommen). Das Problem mit dem «Neopaganismus» ist nicht nur, dass er auf dem Monotheismus basiert, sondern dass er die christlichen Interpretationen der ethnischen Religionen, die er übernommen hat,  erneuert und weiter verbreitet. Damit perpetuiert er alte Vorurteile und betreibt ungewollt Gegenaufklärung zu Lasten der ethnischen Religionen, die er verfälscht, wobei er selbst von einer «Anpassung an die moderne Zeit» redet, ohne die «moderne Zeit» oder die «Moderne» zu definieren. Insofern ist er keine Alternative zum Monotheismus und seiner Kultur, sondern die Rückkehr zu diesem durch die Hintertür.
[7] Mit der «Weltherrschaft der Monotheisten» ist die Macht der christlichen und islamischen Staaten gemeint, die die Weltpolitik bestimmen, die Wissenschaftsgemeinde dominieren und über die Wirtschaft großen Einfluss auf andere Teile der Welt ausüben, die formal nicht vom Monotheismus unterjocht wurden. Jedoch ist mit «Monotheismus» nicht allein der religiöse, sondern alle Formen des Monotheismus gemeint, ob religiös, säkularisiert, politisch oder kulturell. So hat die Missionierung (die immer noch nicht als Verbrechen an der Menschheit anerkannt und geahndet wird), das messianische Sendungsbewusstsein lediglich neue, politische Formen angenommen, drückt sich beispielsweise in der Durchsetzung «westlicher Werte», des Parlamentarismus in der islamischen Welt aus, im «Amerikanischen Exzeptionalismus», in der extremen Verherrlichung der «Individualität» und in vielen Ideologien, die auf den ersten Blick nicht religiös oder von den monotheistischen Stereotypen belastet scheinen, aber einen ähnlichen Dualismus, eine ähnliche «weltkorrigierende» Agenda pflegen, deren Ziel es ist, die Menschheit vor sich selbst zu retten und in das «gelobte Land» zu führen, wenn nötig, sogar zu schleifen.