18.06.2019

Der Diamant der Menschheit

«Studien zeigen, dass das Lernen von indigenen Sprachen hilft, starke indigene Identitäten zu bilden.» (Survival International, Facebook)[1] 


Diese Nachricht führt uns vor Augen, warum es für uns ethnische Hellenen so wichtig ist, dass wir, aber vor allem unsere Kinder Alt- bzw. Originalgriechisch lernen. Die Mythologische Werkstatt für Kinder und die Kurse in Altgriechisch für Erwachsene unter der Leitung der hellenischen Soziologin Dr. Ourania Toutountzi (beides wird vom YSEE organisiert und finanziert) haben diesbezüglich Großartiges geleistet. Indem wir Altgriechisch lernen, lernen wir, wie wir in einer oftmals feindlichen Umgebung Hellenen sein und unsere indigene Identität «aufbauen» können. Das Erlernen des Altgriechischen ist für einen Sprecher des Neugriechischen gar nicht so schwer, wie viele vielleicht denken, schließlich verwenden wir die gleiche Schrift, die gleiche Sprache und die gleichen Wörter wie die alten Griechen. Sogar viele Redewendungen und Sprichwörter sind gleich geblieben. Allerdings haben viele Wörter ihre ursprüngliche Bedeutung verloren, auch grammatikalisch hat sich viel verändert. Selbst die Aussprache ist eine andere, wobei die neugriechische Aussprache das Resultat einer natürlichen Entwicklung darstellt und deshalb auch keiner «Reparatur» bedarf.

Aber uns geht es nicht nur um die altgriechische Sprache. Alle indigenen Sprachen sind kostbar; sie transportieren die besonderen Weltanschauungen und Wertesysteme ihrer Ethnien, ihre Mythen und die Beziehungen zu ihrer Umwelt. Darum müssen sie unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft stehen, vor allem, um sich wieder regenerieren zu können. Das bedeutet allerdings auch, dass die verbrecherischen Residential oder Factory Schools schließen müssen, Ureinwohner z.B. in den USA, Kanada oder Indien geschützt und ihnen mehr Autonomie garantiert wird. Die Stammeskinder sind in besonderer Weise auf Schutz und Sicherheit angewiesen; ihre indigene Identität wird in vielen Teilen dieser Welt weiterhin systematisch demontiert, um aus «Verbindlichkeiten Vermögenswerte, aus Steuerverbrauchern Steuerzahler» zu machen, wie eine «Schule» für Indigene in Indien verlauten lässt (Survival International). Indigene müssen ein Recht auf Schulunterricht und Bildung in ihrer eigenen Sprache haben und die Werte, Traditionen und die Geschichte ihrer eigenen Ethnie (oder ihres Stammes) vermittelt bekommen, damit sie später in der Lage sind, für das eigene Wohlergehen und das Überleben ihres Volkes zu sorgen. Deshalb muss dem Erhalt und Schutz indigener Sprachen oberste Priorität eingeräumt werden, zumal diese heute vom Aussterben bedroht sind.[2] Aber nicht nur die Sprachen sind vom Aussterben bedroht.

Weltweit werden Indigene vertrieben, diskriminiert, ausgegrenzt, marginalisiert, kulturell kolonialisiert, ermordet oder beispielsweise durch Landraub in den Suizid getrieben. «Die Wahrscheinlichkeit, dass ein junger Aborigine von eigener Hand stirbt, ist zehnmal höher als beim Rest der Bevölkerung Australiens.»[3] Die früheren Kolonialherren und heutigen Industriestaaten tragen die Verantwortung dafür. Zu der Verantwortung kommt die Pflicht, den Indigenen zu helfen, auf die Beine zu kommen und selbstbestimmt über das eigene Schicksal zu entscheiden. Das würde nicht nur diesen Ethnien zugute kommen, sondern auch der Umwelt. Denn indigene Völker sind die «besten Umweltschützer und Wächter der natürlichen Welt».[4][5] Sie sind «mit ihrem Land eng vertraut und haben ein unvergleichliches Wissen über die Pflanzen- und Tierwelt. Das macht sie zu erfolgreichen Verwaltern ihrer Gebiete.»[6] Es wäre also im Interesse aller Menschen, dass diese Völker selbstbestimmt leben und weiterhin ihre Lebensweise pflegen. Wir brauchen sie für den Schutz der Ozeane und Wälder, meint auch Jane Goodall.[7]

Selbstbestimmung beginnt mit der Sprache. Die Sprachen sind von unschätzbarem Wert. «Indigene Sprachen sind die Sprachen der Erde, durchzogen mit komplexen Informationen über Geografie, Ökologie und Klima.»[8] Ohne sie wäre die Ethnosphäre viel ärmer, als sie es heute ist. Dabei ist die Ethnosphäre der Diamant der Menschheit.

In seinem Buch «Homage to Humanity» gibt uns der Photograph Jimmy Nelson eine einfache Definition des Begriffs «Ethnosphäre», was sicherlich sehr wichtig ist, denn viele Menschen kennen diesen Begriff nicht und wissen nicht, was sie sich darunter vorstellen sollen. Viel wichtiger jedoch ist, dass er mit Recht darauf hinweist, dass der Begriff im Grunde die ganze Imagination unserer Spezies enthält: «Die Parallelen zwischen der Biodiversität des Planeten und seiner kulturellen Vielfalt sind sehr deutlich… Menschen mit einzigartigen kulturellen Identitäten müssen wirklich und effektiv respektiert, geschätzt und unterstützt werden, um ihret- und unseretwillen. Unsere Ethnodiversität, unsere ‹Ethnosphäre›, muss ebenfalls geschützt werden. Sie ist die Gesamtsumme und Manifestation aller Gedanken, Träume, Mythen, Ideen, Inspirationen und Intuitionen, die die menschliche Vorstellungskraft seit Anbeginn des Bewusstseins hervorgebracht hat ... Kurz gesagt: sie ist das größte Vermächtnis der Menschheit.» (Jimmy Nelson: Homage to Humanity, New York: Rizzoli, 2018.) Im Jahr 2004 nahm der Anthropologe, Ethnobotaniker, Autor und Photograph Wade Davis an der Konferenz des Interinstitutionellen Konsortiums für indigenes Wissen (ICIK) an der Pennsylvania State University teil. In seiner Rede mit dem Titel «The Ethnosphere and the Academy» weist auch er auf die erstaunlichen Parallelen zur Biosphäre hin und zeichnet darüber hinaus seinen Zuhörern ein umfassenderes Bild von der Ethnosphäre, das uns hilft, die Natürlichkeit und Gegebenheit des behandelten Objekts besser zu begreifen: «Zusammen bilden die unzähligen Kulturen der Welt ein intellektuelles, spirituelles und soziales Netz des Lebens, das den Planeten umgibt und ebenso wichtig für sein Wohlergehen ist wie das biologische Netz des Lebens, das wir als Biosphäre kennen. Sie können sich dieses kulturelle Lebensnetz als Ethnosphäre vorstellen und die Ethnosphäre als die Summe aller Gedanken, Träume, Ideale, Mythen, Intuitionen und Inspirationen definieren, die von der Vorstellungskraft seit Anbeginn des Bewusstseins ins Leben gerufen wurden.»

Diese mehrmals ruinierte und heute leider ignorierte Ethnosphäre ist das Wertvollste, was wir als Spezies, als Zivilisation besitzen. Sie ist quasi die Matrix, in der wir uns bewegen. Wenn wir sie verlieren, werden wir verlieren. Wenn wir sie jedoch erhalten, werden wir eines Tages möglicherweise in der Lage sein, ihren wahren Wert zu verstehen und so an der Schönheit und Fülle (wieder) der Zivilisation als Ganzes teilhaben, die die Menschheit hervorgebracht hat.

Dies könnte den Weg für ein tiefgreifendes Verständnis des «Anderen», des Verschiedenen, der Alterität ebnen. Und ein solches Verständnis könnte wiederum den Weg öffnen für die Toleranz oder vielleicht sogar den Respekt gegenüber der Polymorphie der Menschheit, der Vielfalt menschlicher Kulturen, Lebensweisen, Weltanschauungen und Sprachen auf der ganzen Welt und natürlich auch für die Versöhnung der Völker und den ersehnten Frieden zwischen ihnen. Doch ohne Verständnis, Interessenausgleich und ein Mindestmaß an Toleranz wird es wohl keinen Frieden geben. Deshalb ist es wichtig, dass alle unsere Schritte, mögen sie noch so klein sein, in diese Richtung gehen. Damit wir Frieden mit uns selbst, mit unseren Nachbarn und unserer Umwelt finden. Frieden entsteht nicht auf Dokumenten, sondern in unseren Köpfen.

Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, sieht, wohin die Reise geht. Wir wissen also, wir müssen umsteuern. Und mit «wir» meine ich natürlich die Industriegesellschaften. Denn es ist unser falsches Leben, das uns und den anderen den nährenden Boden unter den Füßen zieht. Im Grunde wissen wir das alle. Trotzdem zögern wir. Vielleicht wird es der Blick in den nahenden Abgrund sein, der uns aufweckt. Bekanntermaßen ist es oft die Notwendigkeit, die zur Vernunft verhilft. Jedenfalls wäre es angesichts der aktuellen Lage nur logisch, eine zukunftsweisende Wirtschaftsweise und Politik zu entwickeln, die nicht auf Ausbeutung, Umweltverschmutzung, Vertreibung und Krieg beruht. »Denn kein Mensch ist unverständig genug, Krieg dem Frieden vorzuziehen: begraben doch im Frieden die Kinder ihre Eltern und im Kriege die Eltern ihre Kinder.«[10] Es wäre gut, wenn wir den indigenen Völkern zuhören würden. Wir können so viel von ihnen lernen. Der Dialog mit ihnen und die massive Stärkung ihrer Rechte können sich heilend auswirken, Vorurteile und irrige Annahmen beseitigen, uns Möglichkeiten der Anpassung der weltweiten Ökonomie an die Bedürfnisse des Planeten aufzeigen und derart entscheidend zur Aussöhnung mit der Umwelt beitragen. Ein solcher ehrlicher Dialog könnte helfen, die Wunden von Kolonialismus und Ethnozid zu heilen und wäre nicht nur im Interesse der indigenen Völker oder der Industriegesellschaften, sondern im Interesse aller Lebewesen, vor allem aber auch der Erde als Ganzes.


Nachweise:
1. Survival International, Facebook-Seite: https://www.facebook.com/survival/posts/10156553828641553?__tn__=-R (Post vom 17.06.«2019») Zuletzt abgerufen am 17.06.«2019»).
2. Wiebke Bergemann: 3.000 Sprachen weltweit vom Aussterben bedroht, in: Deutschlandfunk (Linguistik). Stand: 04.01.«2018». URL: https://www.deutschlandfunk.de/linguistik-3-000-sprachen-weltweit-vom-aussterben-bedroht.1148.de.html?dram:article_id=407568 (zuletzt abgerufen am 17.06.«2019»).
3. Umwelt Bundesamt: Von den indigenen Völkern Nachhaltigkeit lernen, in: Umweltbundesamt (Green Radio). Stand: 20.11.«2015». URL: https://www.umweltbundesamt.de/service/green-radio/von-den-indigenen-voelkern-nachhaltigkeit-lernen (zuletzt abgerufen am 17.06.«2019»).
4. Survival International Deutschland: Hervorragende Naturschutz-Tricks, in: Survival International (Artikel). URL: https://www.survivalinternational.de/artikel/3382-indigene-naturschutz (zuletzt abgerufen am 17.06.«2019»).
5. Redaktion: Brasilien – Peru: Furcht vor „tödlichem“ Bahnprojekt im Amazonasgebiet, in: Latina-Press (Lateinamerika). Stand: 16.06.«2015». URL: https://latina-press.com/news/201949-brasilien-peru-furcht-vor-toedlichem-bahnprojekt-im-amazonasgebiet/ (zuletzt abgerufen am 17.06.«2019»).
6. Valeska Ebeling: Indigene Völker und Naturschutz: Wächter über die Natur, in: Gesellschaft für bedrohte Völker (Zeitschrift Bedrohte Völker – Pogrom). URL: https://www.gfbv.de/de/informieren/zeitschrift-bedrohte-voelker-pogrom/aeltere-ausgaben/290-indigener-umweltschutz/indigene-voelker-und-naturschutz-waechter-ueber-die-natur/ (zuletzt abgerufen am 17.06.«2019»).
7. Ruth Krause: Jane Goodall setzt beim Umweltschutz auf Indigene, in: Deutsche Welle (Wissen & Umwelt). Stand: 10.12.«2015». URL: https://www.dw.com/de/jane-goodall-setzt-beim-umweltschutz-auf-indigene/a-18910387 (zuletzt abgerufen am 17.06.«2019»).
8. Survival International Deutschland: “Man kann es nicht einfach googeln und zurückholen”: Warum das Aussterben indigener Sprachen von Bedeutung ist, in: Survival International (Artikel). URL: https://www.survivalinternational.de/artikel/3167-bedrohte-sprachen (zuletzt abgerufen am 17.06.«2019»).
9. Homage to Humanity. Link zum Buch: Goodreads.
10. Herodot, Historien, Buch I., 87.