13.06.2018

Paul Veyne: Die griechisch-römische Religion

Rezension zu: Paul Veyne, Die griechisch-römische Religion: Kult, Frömmigkeit und Moral, Stuttgart: Reclam 2008.

Die “griechisch-römische Religion” war das erste Buch von P. Veyne, das ich gelesen habe. Ich fand den interdisziplinären Ansatz des Autoren sehr gut, weil nur dieser ein klares Bild der griechischen und römischen Religion zeichnen kann.

Denn Veyne will nicht nur das Wesen der Götter verständlich machen oder die antike Orthopraxie vorstellen, sondern auch auf die Jenseitsvorstellungen der der antiken Ethniker eingehen. Leider macht, wie so viele, auch Veyne den Fehler, zwischen hellenischer und römischer Religion nicht zu unterscheiden; eine “griechisch-römische Religion” hat es nie gegeben. Es gelingt ihm nicht mit hellenischen Augen auf die Götter zu schauen, sondern schaut nimmt die abendländische Perspektive ein, dementsprechend sieht auch sein Versuch aus. Dennoch kann ich das Buch weiter empfehlen, aber nicht als Einführung in die Thematik, dazu ist es nicht geeignet. Was er sehr gut hinbekommen hat, ist verständlich zu machen, was die Hellenen mit dem Gattungsbegriff “Theos” (Gott) gemeint haben. Darunter waren alle Götter und Göttinnen gemeint, darüber sollte der Singular nicht hinwegtäuschen, doch bei den Philosophen sollte er künftig für Zeus stehen, den Inbegriff des Göttlichen im Hellenentum (S. 52).

Was am Buch gefällt, ist der fließende Schreibstil und eine sinnvolle Unterteilung der Themen, die das Verständnis der Lektüre enorm erleichtern. Veyne fängt im Olymp an und arbeitet sich auf die Erde runter, sprich: er fängt mit den Göttern an, wie diese in der Vorstellung ihrer “Anhänger” gewesen und in welcher Beziehung sie zur Welt gestanden sein sollen. Dann greift er die Haltung der Hellenen und Römer (leider ist nicht immer klar, welches Volk er gerade meint) zu ihren ethnischen Göttern auf und, jetzt fängt es an interessant zu werden, zeigt, dass in der römischen und hellenischen Religion die Riten höher standen als der “Glaube”. Der Ritualismus war geradezu der Ausdruck antiker Pietät. Und während die äußere Haltung im Kult zunächst die Pietät bestimmte, gewann mit dem Einfluss der Philosophie und seit dem hellenistischen Zeitalter die innere Haltung an Bedeutung zu, negierte aber nicht das äußere Verhalten. Ging es früher z.B. darum, äußerlich sauber zum Götterkult zu erscheinen, gesellte sich später auch die innere Reinheit dazu.
Er widmet sich auch der Opferpraxis: wie, wann und was die Hellenen und Römer ihren Göttern opferten, und was mit dem Fleisch der Opfertiere geschah; somit streift er den soziopolitischen Aspekt der antiken Religion an, der ebenfalls viel zu selten gewürdigt wurde. Auch der Opferritus geriet in den Einfluss der Philosophen, welche an die unblutigen Tendenzen in der hellenischen Tradition anknüpften. Spätestens in der Mitte des Buches wird klar, dass der antike Polytheismus “eine sehr humanistische Religion [ist]… Die Menschen müssen sich nicht von den Göttern abhängig fühlen und ihnen ihre Dankbarkeit bezeugen” (S. 89).

Und so landet Veyne bei den Philosophen. Er lässt dabei die Meinung durchblicken, dass “Religion” und Philosophie verschiedene Dinge gewesen sein sollen, bis zu einem gewissen Zeitpunkt getrennte Wege gingen. Die Fragmente der Vorsokratiker (Thales, Heraklitos, Pythagoras) sprechen freilich eine andere Sprache. Nichtsdestotrotz kam mit den Philosophen frischer Wind in die Tradition, und Veyne weiß zu beschreiben, wie sich dieser auf die religiöse Praxis und Anschauung auswirkte. Im Zentrum stehen die Akademie und die Stoa, vor allem die späteren Platoniker (Plotinos, Porphyrios), was mir sehr gefallen hat, denn gerade die späteren Philosophen werden in Büchern zu dieser Thematik sträflich vernachlässigt.

Leider versteht Veyne den Polytheismus nicht, will bei den Hellenen “monotheistische Tendenzen” entdeckt haben; ein Trugschluss, der wohl seinem abendländischen Dualismus geschuldet ist. Denn das Viele setzt das Eine voraus, und wird durch dieses nicht ersetzt. Schließlich merkt er selber an, dass “Platon, die Stoiker und Plotin” Polytheisten gewesen sind (S. 163). Er zeichnet das Bild einer Welt, in der die Religion kein eigener Bereich war, sondern ein Aspekt der Gesamtkultur, aber ein Aspekt, der alle anderen Bereiche bis ins Mark durchdrang, ohne den Alltag zu ersticken (er spricht hier von der aristophanischen Haltung der Griechen). Denn die Hellenen und Römer lebten jeden Tag mit ihren Göttern. Der westliche Mensch meint diese zu kennen, doch er irrt. Und diese Götter sind nicht ihre Mythen, keine Neider oder Ehebrecher. “Die Götter sind […] ohne einen Hauch des Bösen” (S. 89). Dieser Punkt kann nur verstanden werden, wenn man zwischen Religion und Mythologie zu unterscheiden weiß. Die Mythologie “bestand aus Geschichten, die den Hörer oder Leser erfreuen sollten, die die Ammen den Kindern erzählten und die den Malern und Bildhauern Themen an die Hand geben. Und sie war zugleich Teil der Religion.” (S. 27).

Was ich sehr spannend fand, war das Kapitel über die Jenseitsvorstellungen der antiken Religion. Mehr oder weniger wissen wir, dass diese diesseitsorientiert waren, dennoch machten sich einfache Menschen und Philosophen Gedanken über ein mögliches Danach, rückt nüchtern die Mysterienkulte ins rechte Licht und will auch erklären, weshalb die Menschen ihren Toten Lebensmittel und Blumen spendeten, wohl wissend, dass diese ihnen nicht von Nutzen waren. Dadurch kommen wir den antiken Menschen näher, da sie sich in diesem Punkt nicht allzu sehr von uns unterscheidet haben. Jedenfalls soll auch der Atheismus erwähnt sein, der tatsächlich gar nicht so verbreitet gewesen ist, wie manche heute glauben lassen wollen. Während die Göttertreue selbstverständlich war, deshalb auch gar nicht unterstrichen werden musste, war der Atheismus markiert, stellte er doch eine Seltenheit dar.

Alles in allem ist das Buch recht informativ, das gilt insbesondere für die Anmerkungen zum Text am Ende des Buchs. Vieles wird deutlich gemacht, Querverbindungen gezogen und so ein durchaus plastisches Bild von der alten Welt gezeichnet. Ich empfehle es allen, die sich für die hellenische Tradition interessieren, besonders den hellenischen Polytheisten. Dem komplexen Inhalt wird der Titel keinesfalls gerecht.