Zeit und Religion
EINLEITUNG
Immer wieder sieht sich der Hellenismos in
Griechenland mit der, bereits von der Realität widerlegten Meinung
konfrontiert, er könne «in der heutigen Welt» nicht überleben, sei nicht
anpassungsfähig, die Rehellenisierung «in der modernen Welt nicht
möglich». Die Zeiten Plethons und der «Stratioten» liegen zu weit
zurück, eine Rückkehr in die Vergangenheit ausgeschlossen. Eine
Revitalisierung der antiken Religion sei unmöglich. Die hellenische
Religion sei tot und begraben. Immer wieder begegnen wir solchen und
ähnlichen Meinungen, die ich in zwei Kategorien einordne: «Zeit» und
«Religion».
ZEIT
Wie selbstverständlich wird von uns
Hellenen angenommen, wir würden in die Vergangenheit zurück reisen
wollen. Dabei haben gerade die ethnischen oder, wie sie heute genannt
werden, «Naturreligionen» dies gar nicht nötig, denn sie entwickeln sich
parallel zu ihren Ethnien und wussten sich neuen Gegebenheiten immer
anzupassen, weil sie organisch sind. Dieses Argument geht also komplett
an uns vorbei und trifft eher die Religionen der «einzigen Wahrheit» und
des «einzig wahren Gottes», schließlich halten diese weiterhin an
antiken «heiligen Schriften» fest, die nicht nur die Weltanschauung,
sondern auch das Welt- und Zeitbild ihrer Anhänger diktieren. Wir
hingegen, die wir keine «heiligen Schriften» oder «Offenbarungen» unser
Eigen nennen, kennen dieses Problem nicht.
Aus einer
bestimmten Perspektive wird hier die Möglichkeit einer Rehellenisierung
verneint, beruhend auf Hypothesen, welche zwar den Hellenen attestiert,
in Wahrheit aber nicht die ihren sind. Außerdem ist ihre Perspektive,
nicht dazu geeignet, das Phänomen der Rehellenisierung adäquat zu
bewerten, weil sie geprägt ist von Vorurteilen und einer anderen
Auffassung von Zeit.
Zeit. Was
genau meinen sie mit «Zeit»? Die Moderne, die moderne westliche
Zivilisation? Es ist wohl eher ihre Auffassung von der linearen Zeit,
die wir sowieso nicht teilen. Für sie fängt die Zeit ab einen gewissen
Moment an zu laufen, kennt ein Ziel, ein «Ende», fließt in eine
bestimmte Richtung; das «Alte» wird vom «Neuen» überwunden, entbehrlich
gemacht; alle zivilisatorischen Umbrüche sind «Entwicklungen», weitere
Etappen zum «Ziel». Die Zeit sitzt auf ihrem Pferd «Fortschritt» und
treibt die Welt nach «vorn». Die jeweils neue Epoche löst und beerbt die
vorherige. Jede Sache entwickelt sich zu einer anderen. Wir zur
Schlüssel für die Tür zur «Zukunft». So zielte der Polytheismus auf den
Monotheismus hin, musste sich geradezu zum letzteren «weiterentwickeln»,
weil es dieser Auffassung von Zeit und Fortschritt entspricht. Gemäß
dieser Vorstellung, wäre es nur konsequent, wenn der Atheismus jetzt den
Monotheismus ablösen würde. Genau so wie die antiken Philosophen
angeblich die Saat für den Monotheismus legten, setzte dieser mit der
Entheiligung der Welt die Weichenstellungen für das Zeitalter des
Atheismus. Wie der Monotheismus die «Weiterentwicklung» des Polytheismus
gewesen sein sollte, könnte auch der Atheismus die «Weiterentwicklung»
des Monotheismus werden. Wir könnten diesen Gedanken mühelos ins
Unendliche ziehen, die Fantasie kennt hier keine Grenzen. Feststeht: die
Zeit kümmert sich nicht um menschliche Fortschrittsvorstellungen.
Weder wollen
noch können wir zurück in die Zeit. Wir leben jetzt, wir sind hier. Das
ist unsere Zeit. Allerdings kehren wir tatsächlich zu etwas zurück,
nämlich zu unserer eigenen Kultur und Lebensweise, die von unserer
Weltanschauung gespeist wird. Wir «modernisieren» sie nicht, was in den
meisten Fällen sowieso nur auf eine Anpassung an das Abendland
hinausgeht, passen sie nicht den geltenden Imperativen und Wertekanons
an, sondern allein der Zeit und auch das nur in dem Maße, wie es für das
Überleben der Kultur notwendig ist. Wir leben in der Zeit, indes gehen
wir nicht mit ihr. Das ist ein Unterschied. Die Anpassung bezieht sich
auf die veränderten Lebensumstände und den Anforderungen der heutigen
Zivilisation.
Die Religion
und Kultur der Eroberer abzulegen und sich der eigenen zuzuwenden zeugt
wahrlich nicht von Nostalgie oder einer Flucht in die «Zeit». Vor allem
dann nicht, wenn eben diese Besatzer die hellenische Kultur als die
Vergangenheit ihrer eigenen deklarieren, und ihre eigene als Fortsetzung
der hellenischen angeben. Auch die Lakota und andere Ethnien bemühen
sich um ihre indigenen Traditionen. Sollte dies tatsächlich einen
Anachronismus darstellen, befänden wir uns Hellenen also in bester
Gesellschaft. Die Anthropologin Dr. Evgenia Fotiou verdeutlicht in ihrem
Artikel «We are the Indians of Greece»: Indigeneity and Religious Revitalization in Modern Greece
(CrossCurrents, Juni 2014, S. 219-235) die Themen, die uns Hellenen
tatsächlich beschäftigen: Indigenität, Tradition, Identität, soziale
Gerechtigkeit und Religionsfreiheit. Die «Zeit» war nie unser Problem.
Während die gegründeten Weltanschauungen an starren, antiken Texten
gebunden sind, halten wir uns an die Natur, gemäß des kata physin zein («Gemäß der Natur leben»).
RELIGION
Der Hellenismos soll nun eine Rückkehr zur
antiken Religion darstellen? Falsch. Wir kehren nicht zu irgend einer
«Religion» zurück, sondern stellen unsere Kultur, Denk- und Lebensweise,
sprich: unser Ethos wieder her. Jede Ethnie («Kulturvolk») bedingt ein
spezifisches Ethos. Zu diesem Ethos gehört eben auch die «Religion».
Religion. So etwas gab es eigentlich nicht in Hellas, zumindest nicht im
heutigen Sinn des Wortes. Die Hellenen nennen ihren Götterkult
«Eusebeia» (Pietät), und umschreiben diesen nur der Verständlichkeit
halber als «Religion». Zu Beginn ist diese nichts weiter als Kult
gewesen, Ritualismus. Erst seit ihrer Verschmelzung mit der
Weltanschauung und Philosophie der Ethnie veränderte sie sich und nahm
neue Züge an.
«Merkwürdigerweise
hatten die Griechen, für ein so religiös gesinntes Volk, kein Wort für
die Religion selbst; die naheliegendsten Begriffe waren eusebeia
(›Pietät‹) und threskeia (›Kult‹)« (Encyclopædia Britannica, Stichwort: Greek religion, in: Encyclopædia Britannica Online (zuletzt abgerufen am 24. Januar 2.013).
Aus
verschiedenen Gründen kommt dem «griechischen» Staat und seiner Kirche
die von christlichen Kreisen fabrizierte Vorstellung des Hellenismos als
bloße Religion oder Glaubensgemeinschaft sehr gelegen. Und als genau
solche wollen sie ihn verstanden wissen. Deshalb heißt er nach wie vor
offiziell «Götzendienst», «Paganismus» und seit kurzem auch
«Neopaganismus». Der Begriff «Hellenismos» selbst ist längst nach dem
Geschmack des neuen Staates und der Kirche definiert und meint die
Geschichte und Kultur der Hellenen, wie vom Staat und seinen
Nationalisten ideologisch vor knapp 200 Jahren aufgebaut. Kernstück
dieses ideologisch konzipierten «Hellenismos», der Romiosini im neuen
Gewand, und seiner «griechischen» Identität ist das orthodoxe
Christentum. Bereits 1830 wurde die Orthodoxie allmählich in die neue
«griechische» Identität integriert. Mit der Gründung des neuen
«griechischen» Staates, so die Doktrin, sei auch die hellenische Kultur
wiederhergestellt worden. Die Rehellenisierung straft diese Erzählung
Lügen. Wäre die heutige Kultur Griechenlands die hellenische, hätte es
keinen Bedarf an einer Rehellenisierung gegeben. Mit weiteren Lügen und
Verschwörungstheorien versuchen sich christliche Kreise aus der
Bredouille zu helfen, und genau hier kommt ihnen die «Religion» gut
gelegen. Der «Götzendienst» wird von der restlichen Kultur abgetrennt
und als ein eigener Bereich behandelt. Dieses Verständnis der Antike hat
einen Haken, sogar mehrere, aber hier interessiert nur der eine.
Das
Hellenentum ist eine holistische Kultur, alle seine Institutionen sind
organische Bestandteile derselben, die summa summarum das Hellenentum,
seine Identität ergeben, daher sind sie nicht beliebig ersetzbar. Wir
tauschen nicht eine Religion gegen eine andere aus, sondern eine Kultur
gegen eine andere Kultur, die Romiosini mit ihrer Religion gegen das
Hellenentum und seiner Religion. Wie die ägyptische, römische oder
keltische, so gehört auch die hellenische «Religion» zu ihrer Ethnie.
Sie ist kein abgetrennter Bereich der Kultur, sondern mit ihr und allen
anderen Aspekten verflochten. Der Hellenismos ist ein Ethnismus, ein
Paket. Öffnen wir dieses Paket, finden wir darin die Sprache, die Kunst,
Mythologie, das Tugendsystem, die Schrift, politische Vorstellungen,
die Philosophie, Architektur und eben auch die Religion dieser Ethnie.
Hellenische Sprache, Religion und Lebensweise (Ethos) sind die
Hauptmerkmale der hellenischen Ethnie, über die sich die hellenischen
Stämme der gleichen Ethnie zugehörig erkannten (Herodotos, 8.144). Uns
unterscheidet nicht die «Religion» voneinander, sondern die
Kulturtradition.
Wir stellen
nicht die «alte Religion» wieder her, sondern unsere eigene. Zusammen
mit der Kultur, zu der sie gehört. Anders geht es nicht. Wenn die
Demokratie (scheinbar), die Philosophie, die Redefreiheit und die
Gleichheit vor dem Gesetzt im Jahre 2.015 der christlichen Zeitrechnung
noch immer nicht antiquiert sind, wieso sollte es dann die «Religion»
sein? Weil sie stört. Wir kehrten nicht der «Religion» den Rücken,
sondern der gesamten romäischen Kultur. Wir traten nie aus der Kirche
aus, sondern entfernten diese aus unseren Köpfen. Darin mögen wir
Plethon folgen, aber nicht seiner Zeit.
Wir
wechselten also keine Religion durch eine andere aus, sondern eine
Kultur durch eine andere. Das Hellenentum gegen die Romiosini respektive
das Abendland. Mit diesem Wechsel geht ein Wechsel des Verhaltens,
Menschseins und Bewusst-Seins einher. Darin liegt der Sinn.
Und wenn
sich die Atheisten darüber lustig machen und über uns sagen: «die haben
sich des einen Gottes entledigt, um sich weitere zwölf aufzuhalsen»,
haben sie eben gerade das nicht verstanden. Die Atheisten meinen, dass
es sich mit einem Austritt aus der Kirche erledigt hätte. Sie
überzeichnen die Bedeutung der Gottlosigkeit. Eine positive oder
negative Antwort auf die Frage nach der Existenz «Gottes», sagt nichts
über die Gedanken in unseren Köpfen aus. Im Glauben Atheist, aber im
Denken weiterhin Christ sein, macht keinen allzu großen Unterschied.
Alle Menschen haben eine Weltanschauung, wenn auch unbewusst, und sie
gestaltet unsere Beziehung zur Welt und durchblutet unser Denken. Die
Religion mögen die Atheisten abgelegt haben, aber nicht die mit der
Muttermilch aufgesogene Kultur, ihre Normen und Imperative. Das ist eine
andere Baustelle.
ZUSAMMENFASSUNG
Plethon, einer der Väter der Renaissance,
hat den Beweis erbracht, dass der Versuch einer Wiederherstellung des
Hellenentums weder vergebens noch sinnlos ist. Plethons Werk weiter zu
führen und zu vervollständigen bedeutet noch lange nicht, in seiner Zeit
festzusitzen. Die Herausforderungen der heutigen Zeit sind anderer Art.
Wir knüpfen zwar tatsächlich an Plethon an, aber nicht nur. Plethons
Tod bedeutete nicht das Ende. Der Hellenismos hat Plethon und Marullus
überdauert. Ich erinnere hier kurz an Louis Menard (1822-1901), der
erprobten Wiederherstellung der hellenischen Religion in Verbindung mit
der Einführung des Sozialismus und der Demokratie während der
kurzweiligen «Franzosenherrschaft» auf den Heptanisa-Inseln (1797-1799)
oder den Kult der Demeter im Dorf Eleusis bei Athen, der erst im Jahre
1801 gewaltsam beendet wurde (J. C. Lawson, Modern Greek Folklore and
Ancient Greek Religion, S. 79-80, Cambridge 1910). Unsere Aufgabe und
Pflicht besteht darin, den Trümmerhaufen, der von unserer Kultur übrig
geblieben ist, zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Platon,
Plotinos, Proklos, Plethon – sie alle lebten in der Vergangenheit, doch
hat ihr Leben und Schaffen ihren Tod überdauert und tiefe Spuren im
weiteren Verlauf der Geschichte hinterlassen. Das Herdfeuer der Hestia
ist nicht zur Gänze erloschen, hier und da flackert die Glut unter dem
Haufen Asche. Es bedarf nur eines einzigen kleinen Funkens den Geist zu
entzünden. Nur den Hauch einer Windströmung, um das Feuer aufs Neue zu
entfachen.
20. Thargelion 2. Jahr der 698. Olympiade / 7. Juni 2.015